Du hast Recht behalten, liebe Veronika! Natürlich kann ich es nicht lassen, doch vom Rentier Cosmos zu berichten. Hier ein Bild von seinem im Gehege gebliebenen Gspänli auf Melchsee Frutt, aufgenommen am 19. Januar. Ich finde, es sieht seinem angeblich spurlos verschwundenen Kumpel verdächtig ähnlich.
Seit Weihnachten hält die Geschichte vom entlaufenen Rentier Cosmos die Schweizer Öffentlichkeit in Atem.
(Quelle: www.20min.ch)
Leider, muss ich sagen. Denn die Melchsee Frutt, auf der sie sich zuträgt, ist unser bevorzugter Skiferienort. Herr T. und ich schätzen ihn, weil er dezidiert uncool ist. Stets scheint er im Banne jener bläulichen Stille zu stehen, die aus dem zugefrorenen Melchsee zu ihm hochsteigt.
Am Abend muss man nicht darüber nachdenken, an welcher trendigen Bar man sich völldröhnen soll. Es gibt dort meines Wissens keine trendigen Bars. Es gibt nur die stets ausgedehnten und köstlichen Sportler-Abendessen in unserer Pension. Danach darf man sich getrost ins warme Bett legen. Mit oder ohne gutes Buch.
Melchsee Frutt ist ein traumhaft schöner Ort. Ich finde, er kann nichts weniger gebrauchen als einen Volksauflauf wegen eines freiheitsliebenden Rentiers.
Morgen fahren wir wieder hin. Am liebsten würde ich dort nicht das Rentier Cosmos sehen. Sondern seine hufgeschriebene Abschiedsnotz im Schnee: "Habe einen geheimen Fluchtweg ins Berner Oberland gefunden! Ätsch! Cosmos!"
Übrigens nehme ich meinen Laptop nicht mit. Und dort oben gibt es auch kein Internet-Café. Ihr lest also erst in einer Woche wieder von mir.
Zu den gediegensten hiesigen Advents-Vergnügen gehört ein Einkaufstag im nicht allzu fernen Zürich. Um meine Schwägerin Stella dort zu treffen, überwand ich gestern auf dem Weg zum Bahnhof Berge von Neuschnee und riesige Pflotsch*-Seen.
Stella ist eine Frau mit Stil und Klasse und beinahe Zürcherin. Deshalb wusste ich von Anfang an, dass eine Tour mit ihr die Grundlage für den ultimativen Shopping-Guide für Provinzlerinnen in Zürich würde. Wurde er auch. Alles begann aber erstaunlich bescheiden, in einem kleinen Trendrestaurant namens Josef. Das Lokal ist designmässig wohltuend unprätentiös, das Mittagessen war gut und sagenhaft preisgünstig. Gestärkt und zu allem bereit begaben wir uns danach in Lilli Tulipan's kleine Warenhalle - ebenfalls im Kreis 5. Dort sieht es fast überall so aus:
(Quelle: www.mehrundwert.ch)
Zauberhaft. Ich weiss seither, was ich mir vom Christkind wünsche: ein Fläschchen "Schnee" aus der Library of Fragrance.
Weil es wirklich beinahe wie Neuschnee riecht. Frisch und wild und kalt. Und weil die Frogg die Idee einer Bibliothek der Düfte sooo poetisch findet. Meine Schwägerin Stella hat aber mehr Sinn für Stil als für Poesie. Sie drängte deshalb zum Aufbruch, nachdem ich ein Geschenk für Carina gefunden hatte.
So wandten wir uns nun weg vom Kunstgewerblichen und hin zum schamlosen Kommerz an der Bahnhofstrasse. Wobei ich die englische Buchhandlung Orell Füssli tunlich mied. Ich habe dort neulich erst ein kleines Vermögen liegenlassen.
Dafür mussten wir noch schnell zu Manor, etwas abholen. Das Warenhaus ist wohl nur etwa halb so gross wie seine grossen Schwestern in Paris und London: Doch die Verkäuferin, die uns dort bediente, bewies grossstädtisches Flair. Mit ihrer Miene liess sie uns keinen Augenblick im Ungewissen darüber, dass wir ihr viel Geduld abverlangten. Ich fühlte mich nach Paris versetzt, wo die Verkäuferinnen für ihr schnippisches Getue berühmt sind.
Doch das war schnell vergessen, denn nun gings hinein in die Plüschorgie im Franz Carl Weber. Wahnsinn! Da gibts Wände mit Tierli, leuchtend in allen Farben. Wände mit Autöli, classy und billig. Wände mit Playmobil und Lego. Wände mit... Ich fürchte, es sind dort schon Kinder wahnsinnig geworden vor all diesen Wänden. Die Erwachsenen schienen sich ausgerechnet gestern anzuschicken, alle diese Wände leerzukaufen. So ernsthaft, dass das Kreditkartensystem irgendwann im Laufe des Nachmittags den Geist aufgab.
Im Reformhaus nebenan sorgte ich noch schnell für Nachschub bei der frogg-gerechten Ernährung.
Die schmecken prima. Ehrlich. Von denen kaufte ich gleich sieben Stück.
Als wir danach die Limmat erreichten, wurde der Himmel dunkelblau und die Weihnachtsbeleuchtungen begannen in vollem Glanz zu erstrahlen. Habe ich schon einmal gestanden, dass ich diese weihnachtlich geschmückten Städte liebe? Dieses Funkeln und Strahlen? Diese Lichterorgien Diese Zurschaustellung von Vielfalt, Schönheit und Reichtum? Ich weiss, kein Mensch wird mir das glauben. Und doch. Es ist so.
Unsere nächste Station war Kolonialwaren Schwarzenbach im Niederdorf. Eine Augenweide, diese Auslage! Und im Frogg'schen Buch der gesammelten Rituale und Rituälchen ist Schwarzenbach die unausweichliche Zürcher Verkaufsstelle für kandierten Ingwer.
Danach irrten wir mit lichtertrunkenen Augen durch das Niederdorf.
(Quelle: www.zuetech.ch)
Bei den Oberen Zünen stolperte ich im Pflotsch und liess die Tüte mit Gauchs Schafsjoghurt fallen. Einer der Becher ging zu Bruch.
Aber das entdeckte ich erst, als wir in der Neumarkt-Bar bei einem Punsch den Abend ausklingen liessen. Ich musste das Joghurt an Ort und Stelle essen. Es hätte sonst alles versaut.
Ich habe gerade einen Italien-Krimi* zu lesen begonnen. Da ist von Espresso-Bars die Rede und von Fischmärkten und einer schönen Stadt. Und da fallen ein paar italienische Sätze. Welch schöne Sprache, italienisch, denkt die Frogg und schaut hinaus in den Novemberhimmel (ja, ich weiss, es ist Dezember. Aber hierzulande haben wir ja von Mitte Oktober bis Mitte März nichts anderes als November). Ich bekomme Sehnsucht nach Italien.
Doch halt! Da fällt mir der letzte italienische Film ein, den ich gesehen habe: Gomorra von Roberto Saviano.
Sofort muss ich an die giftmüll-verseuchten Böden von Kamapanien denken. Daran, dass ich seit diesem Film einen flauen Magen bekomme, wenn ich im Coop Trauben aus Italien sehe. Daran, dass ich mir geschworen habe, nicht mehr nach Italien zu reisen, bis die Mafia weg ist (also, wahrscheinlich nie mehr). Dann bin ich noch einmal schockiert darüber, dass Menschen in der alten EU in so höllischen Zuständen leben müssen wie der Film sie zeigt.
Na gut, mit Italien wird nichts nächsten Sommer. Aber es gibt ja noch andere reizvolle Mittelmeerländer.
Kroatien zum Beispiel. Der Bürgerkrieg ist ja jetzt vorbei. Doch was soll ich davon halten, dass es dort einmal eine Ustascha gegeben hat? Und was soll ich darüber denken?
Da wäre Griechenland schon unproblematischer. Naja, mehr oder weniger. Griechenland begeht massive Menschenrechtsverletzungen an Asylbewerbern. Hat deswegen eine Klage der EU-Kommission am Hals.
Bliebe also die Türkei. Aber, ach, die Türkei! Die Kurdenfrage! Die Zensur, überhaupt!
Und Libanon? Zu gefährlich, glaube ich.
Und Israel? Lieber nicht.
Und ganz Nordafrika: Nicht einmal Ägypten ist puncto Demokratie über jeden Verdacht erhaben.
Bleibt nur noch Südfrankreich. Ich meine: Frankreich hat die Menschenrechte erfunden. Da muss doch alles in Ordnung sein. Ist es aber nur beschränkt.
Tja, was soll man da machen. Fürchterliche Zustände gibt es überall, Schweinehunde auch. Noch dazu ist ausgerechnet unser aller Haus-Badestrand gleichzeitig Schauplatz einer stillen Flüchtlingskatastrophe. Am beisten bleibt die Frogg zu Hause in der heilen Schweiz. Doch uiuiuiui! Die Schweiz! Die Steueroase! Der Ort, wo die Schweinhunde der Welt ihr geraubtes Geld hinbringen!
Was also tun? Wo die Grenzen setzen? Wie reisen? Wie zu Hause bleiben?
Ich will Euch hier nicht länger mit der Finanzkrise langweilen. Aber das hier muss ich noch erzählen: Jetzt, wo immer wieder mal von verlorenen Vermögen die Rede ist, fällt mir oft Frau Oberst ein. Olga, jene Russin mit der stets aufrechten, ja staatstragenden Haltung. Olga, die ich in den 1999 in Tarussa getroffen habe und sehr bewunderte. Olga, die ich einmal dabei beobachtet habe, wie sie biodynamische Hanfbauern aus Deutschland in ihrer schönen Heimat streng und in fast akzentfreiem Hochdeutsch zur Rede stellte.
Olga war Kommunistin, Soldatin und Deutschlehrerin an der Universität in Tadschikistan. Sie verdiente ordentlich und sparte genügend Geld für ein kleines Haus. Doch dann kam Glasnost. Die Sowjetunion zerfiel, Frau Oberst musste mitsamt ihrer Familie aus Tadschikistan fliehen. Sie hatten Glück: Ihr Mann war Mathematiker und fand einen Job in einer Raumstation in der russischen Provinz. Dennoch lebte die Familie zunächst von der Hand in den Mund, in einer zugigen Blockwohnung.
Es wäre an der Zeit gewesen, den Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Doch das ging nicht. 1998 musste die russische Regierung den Rubel massiv abwerten. "Ich hatte Geld für ein kleines Haus. Doch als ich es schliesslich kaufen wollte, konnte ich mir damit gerade noch ein paar Schuhe leisten", sagte Olga damals und zeichnete mit ihren Armen eine Schuhschachtel in die Luft. Sie sagte es ruhig und gelassen und ohne zu klagen.
Ich bewundere Olga heute vielleicht noch mehr als damals.
1) Was im Moment in der Türkei politisch passiert, verblüfft mich und erfüllt mich mit Besorgnis. Von den Spannungen zwischen der zum Islam neigenden AKP und den sekulären Generälen war für uns Touristen kaum etwas zu spüren. Im Gegenteil: Die Türken präsentierten sich uns als Volk, das gerne lebt und gern Geschäfte macht . Von sturen Ideologien scheint es sich ungern daran hindern zu lassen. Umso mehr befremden die Bomben, die in den letzten Wochen in Istanbul hochgegangen sind. Die Verhaftungen. Die Streitigkeiten am Verfassungsgericht. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Konflikte die Menschen auf der Strasse etwas angehen. Gut tun sie ihnen sicher nicht. Einfach zu lösen dürften sie aber auch nicht sein.
2) Gehört die Türkei in die EU? Jein. Einerseits möchte die Fröschin in der Türkei ja gern die demokratischen Kräfte und den Wohlstand gestärkt sehen. Andererseits bin ich mir nicht sicher, inwieweit ein starker Islam mit einem demokratischen Staatswesen überhaupt vereinbar ist. Diese Frage hat sehr wohl mit den oben erwähnten Konflikten zu tun, und sie muss auf befriedigende Weise geklärt sein. Sagt die Fröschin (nota bene als Bürgerin eines Nicht-EU-Landes, das aufs Engste mit der EU verflochten ist und von ihr abhängt).
3) Die Türken kochen tatsächlich besser als die Griechen. Vor allem haben sie ein unglaubliches Flair für frische Früchte und frisches Gemüse. Zudem ist Kebab viel mehr als das, was man hierzulande in der Bude um die Ecke als Döner über die Theke gereicht bekommt. Und von den reichhaltigen Mezze-Tafeln will ich gar nicht erst zu schwärmen anfangen. Einfach wunderbar! Nur beim Ziegenkäse konnten Herr T. und ich uns nicht einigen: Er kauft hier weiterhin griechischen Feta aus der Plastikverpackung. Der türkische Variante aus der Blechbüse begegnet er mit höchstem Misstrauen.
4) Danke für die vielen, auch kontroversen Kommentare. Hat wirklich Spass gemacht.
Weiter gehts auf diesem Blog jetzt wieder mit alltäglichen Themen.
Drei junge Mädchen warten mit uns auf die Metro Richtung Flughafen. Sie tragen schwarze Mäntel und Kopftücher, fast wie wütende Mareien. Sie tragen sie mit so viel Trotz wie die Frogg weiland ihre Jeansjacke mit den Heavy Metal-Knöpfen. Der Stoff hängt ihnen schlabbrig an den mageren Körpern. Darunter tragen sie Jeans und Turnschuhe.
Beim Einsteigen sehe ich: Eine von ihnen hat eine billige Stofftasche mit dem Logo der osmanischen Sultane um.
(Quelle: www.arabische-kalligraphie.ch)
Die Tughra. Das Zeichen hat mich fasziniert, wo immer ich es gesehen habe. Auch jetzt, auf dieser Tasche finde ich es schön und rätselhaft. So eine Stofftasche hatte ich als junges Mädchen auch. Die Taschen waren "in" damals und trugen das Logo eines in Frösch erfolgreichen Mittelschichts-Kleiderladens. Was dem Mädchen wohl seine Tasche bedeutet? Und das Logo?
Es ist Sonntag. Die Mädchen werden wohl jetzt zu einer der drei nach Hause fahren. In ein besseres Mittelschichtsheim. Sie werden sich in einem Zimmer verbarrikadieren und zusammen laute Rockmusik hören. Oder was was immer trotzige junge Mädchen heutzutage hören.
Oder sehen sie sich YouTube-Videos mit den Brandreden feuriger Mullahs an?
Vielleicht tun sie auch nichts von alldem. Jedenfalls steigen die drei bei der Station Dünya Ticaret Mercesi aus: am Welthandelszentrum. Da sind weit und breit keine gut situierten Wohnhäuser zu sehen. Nur Messehallen.
Wir fahren weiter. Zum Flughafen. Alles, was wir jetzt noch nicht wissen über die Türkei werden wir noch lange nicht wissen. Vielleicht nie. Wir sind auf dem Rückweg in die Schweiz.
Morgens um 4 Uhr, irgendwo zwischen Manisa und Bursa. Der Bus biegt von der Landstrasse ab. Wie eine Fata Morgana taucht vor unseren schlaftrunkenen Augen eine hell erleuchtete Autobahnraststätte auf. Der Fahrer sucht sich einen Parkplatz. Mindestens zehn Busse stehen hier.
Mit wackligen Kniegelenken taumeln wir hinein die Menschenmenge auf dem Vorplatz. Hier gehts so geschäftig zu und her wie am heiterhellen Tag. Und: Es wimmelt von Frauen mit Kopftüchern. Ich stakse zum WC. Auch dort: Frauen mit Kopftüchern. Ein paar Mädchen haben ihre Mäntelchen abgenommen und zeigen, was sie darunter tragen: modische T-Shirts mit kurzen Ärmeln und tiefen Ausschnitten.
Und dann draussen die Bar. Das Licht blendet. Die Türken stehen mit grossen, blauen Gläsern da. Trinken mit Strohhalmen eine Flüssigkeit, die aussieht wie Pinha Colada. Weiss. Etwas schaumig. Alle trinken das Zeug. Auch die Kopftuchfrauen trinken Pinha Colada, sogar drei schwarze Mareien am Nebentisch. "Was ist denn hier passiert?" fragt die Frogg. Da kommt unsere Sitznachbarin vorbei, sie kann ein bisschen Englisch, hält lächelnd ihr blaues Glas in die Höhe und erklärt: "Ayran! Very good!"
Die Frogg ist froh, dass sie das Zeug nicht trinken muss! Ayran mag sie nicht. Das hat sie schon in den ersten Tagen in Istanbul gemerkt. Sie trinkt Tee und schaut um sich. Todmüde und vollkommen fasziniert zugleich. Alles kommt ihr hier surreal vor. Der infernalische Lärm der Busmotoren draussen. Das Gerede. Sie ist wie gerädert, seit acht Stunden sitzt sie im Bus. Seit Bodrum. Wie halten die Türken es aus, so zu reisen? In Nachtbussen. Auf diesen unendlichen Strecken. 13 Stunden soll unsere Reise dauern. Doch die Türken halten es aus. Tun so gelassen, als sei es 10 Uhr morgens.
Auf Türkisch wird per Lautsprecher wieder einmal die Abfahrt eines Busses verkündet. Fährt jetzt unserer? Wir werden nervös und gehen nach draussen. Aber wir können noch hierbleiben. Wir warten. Erst später steigen wir ein, wenn die anderen in unserem Bus es auch tun. Dann schläft die Frogg wieder ein. Sie wacht auf, als der Bus auf eine total leere Autobahn biegt. "Ankara" steht auf dem Wegweiser. Ja, denkt sie. Möge dieser Bus nach Ankara fahren. Sie mag nicht an das Flugzeug denken, das sie morgen in die Schweiz zurück bringen wird.
Sie schläft wieder ein. Wacht schon zehn Minuten später wieder auf, denn jetzt geht die Sonne auf, ploppt direkt vor ihren Augen über einen Hügel am Horizont, orangerot. "Wir fahren wirklich direkt nach Osten", denkt die Frogg noch. Stellt noch fest, dass es hier genau gleich aussieht wie in Rumelien: wogende Felder, ein paar Eichen. Sie denkt: "Hach! Jetzt fahren wir nach Ankara!" Schläft wieder ein, richtig tief. Wacht erst wieder auf, als Herr T. sie anstupst. "Aussteigen!" sagt er, "Wir sind auf der Fähre!"
Ja, hier sind wir.
Irgendwo auf dem Marmara-Meer. Wo genau wissen wir nicht. Herr T. behauptet, wir seien praktisch schon am Bosporus. Wir seien bald am Ziel, nahe beim Otogar. Ich glaube ihm. Herr T. ist schliesslich Geograph.
Doch dann verlässt der Bus die Fähre und fährt und fährt. Viel länger als wir erwartet haben. Waren wir hier schon einmal, auf dem Weg nach Süden? Kann sein. Sieht hier ähnlich aus wie bei der Abfahrt. Doch dann hält der Bus an einer winzigen Station neben der Autobahn. Eine ellenlange Lautsprecher-Ansage folgt. Sollten wir hier aussteigen? Viele steigen hier aus. Aber unsere Sitznachbarin bleibt noch. Und wir bleiben besser auch. Der Otogar kann nicht weit sein, und den kennen wir. Von dort werden wir den Weg ins Stadtzentrum leicht finden.
Unser Bus fährt weiter. Fährt und fährt. Hinein in einen Pinienwald. Wir werden stutzig, Verlässt der Bus die Stadt? Dann schiesst er hinaus auf eine Brücke. "Hey, wir fahren über den Bosporus!" ruft Herr T. Er hat Panik in der Stimme. Und er hat Recht, herrgottsternen! Unter uns liegt sie, die berühmte Wasserstrasse! Aber über den Bosporus sollten wir jetzt nicht fahren! Das ist ganz falsch! Denn so fahren wir weg vom Otogar, der Otogar liegt doch in Europa! Und wie um alles in der Welt kämen wir von Asien je wieder zurück in den europäischen Teil Istanbuls? Das hatte uns schon bei unserem ersten Aufenthalt ungeheuer schwierig geschienen: Hinüber nach Asien und zurück zu kommen. Und jetzt... mit all dem Gepäck...
"Jetzt fahren wir doch nach Ankara!" sagt die Frogg ängstlich.
Aber unsere Sitznachbarin beruhigt uns. "Bus go to otogar", versichert sie.
Haben wir den Bosporus etwa von Osten nach Westen überquert? Wir können unsere Sitznachbarin nicht fragen, denn sie macht sich zum Aussteigen bereit. Kurz danach verlässt sie uns auch. Der Bus hat wieder mal in irgendeiner einer Seitenstrasse gehalten. Auch andere steigen aus. Wir bleiben fast als einzige im Bus zurück.
Der Bus fährt wieder los. Fährt und fährt. Bis wir in der Ferne das neue Ikea-Center sehen. Noch nie habe ich mich über den Anblick eines Ikea Centers so gefreut, denn dieses Ikea Center steht direkt neben dem Otogar, daran erinnere ich mich gut.
Im untersten Stock des riesigen Busbahnhofs wirft uns der Bus mit Sack und Pack aus, zwischen Staub und Dreck. Es ist kurz nach neun Uhr. Wir sind wieder in Istanbul. Auf der richtigen Seite des Bosporus. "Wir haben das Marmara-Meer auf der asiatischen Seite überquert. Wir haben eine Rundfahrt durch Üsküdar gemacht und es nicht gewusst. Wir haben den Bosporus überquert und viel zu wenig gestaunt. Wir Idioten!" sagt Herr T. Dann brechen wir auf. Wir haben noch einen letzten Tag in Istanbul.
Ja. Und dieses Video vom Otogar von Istanbul (gefilmt vor dem ersten von sieben Ausfahrten) widme ich Herrn T.:
Endlich gelangten wir in Bodrum an, dem südlichsten Punkt unserer Reise in Anatolien - gewissermassen dem Gegenpol zu Çanakkale ganz im Norden. Und tatsächlich: Nie habe ich zwei gegensätzlichere Städte gesehen als Çanakkale und Bodrum. Çanakkale, der Türken-Ferienort: Überlaufen zwar und dennoch manierlich, unaufgeregt, jeglicher Übermut von vernünftigen, lebenspraktischen Benimm-Regeln gezügelt. Bodrum: Fest in der Hand der Engländer. Hier sieht man die kürzesten Röcke und die knappsten Bikinis ever, sieht die fettesten Menschen, die vollsten Teller, die longsten Drinks. Und hier gibt es eine bestimmte Sorte Engländerinnen im Überfluss: Jene, die zu glauben scheinen, sie seien nicht liebenswert, wenn sie nicht bei jeder Gelegenheit laut kreischen.
Und dennoch, Bodrum ist eine schöne Stadt. Eine liebliche Stadt. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich trotz Mega-Wachstum einen Sinn für ein einheitliches Erscheinunsgbild erhalten hat.
Aber es ist mehr als die Architektur. In Bodrum liegt etwas Besonderes in der Luft, und auch die Engländer haben es bemerkt. Sie nennen Bodrum "bedroom". Nun ja, so ist der englische Humor: Er erzählt nur die halbe Wahrheit, versteckt ihre verletzlicheren Seiten verschämt hinter einer zotigen Grimasse.
Die Türken formulieren es anders. Zum Beispiel jener Angestellte im Tramperhotel, der in Stuttgart aufgewachsen ist und schwäbisch spricht. "Bodrum", sagte er, "ist die Stadt der Liebe. Wir verehren hier die Liebe. Das war schon immer so, seit der Antike. Und wenn zwei sich sehen und lieben und es klappt mit der Liebe, dann heiraten sie, und das ist der Anfang des Lebens." Die schwäbischen Laute kamen ihm dabei leise und zärtlich über die Lippen und doch so, als seien sie ihm etwas vollkommen Fremdes. Das klang nicht wie PR-Gebrabbel. Es kam der Wahrheit nahe.
Bodrum ist die Stadt der Liebe. Die Frogg fühlte es, wenn ihr im glasklaren Wasser die Fischchen um die Füsse schossen. Fühlte es im gleissenden Sonnenschein auf den Plätzen und im milden Dämmerlicht der Gassen. Bodrum macht die Haut weich und empfänglich für Zärtlichkeiten und erhöht die Bereitschaft zu lächeln.
Und wer bis am Abend keinen bedroom zu zweit oder noch nicht genug Liebe getankt hat, kann es in der berühmten Open Air Disco Halikarnass die ganze Nacht lang tun. "Halikarnass", das klingt nach der antiken Variante von dekadent und monumental überdreht orgiastisch und der Name passt. Noch morgens um vier Uhr vermischen sich dort stampfende, westliche Beats und schmachtender orientalischer Sound zu einer schweisstriefenden, liebestollen Klanggedonner, das in der halben Stadt widerhallt.