12
Jan
2013

Altenheim und Totenschädel

Der Anblick eines Altersheims hat eine extrem klärende Wirkung auf meinen Geist. Die Nähe einer solchen Einrichtung wirkt auf mich wie auf unsere Vorfahren der Anblick eines Totenschädels: als ein memento mori. Eine Erinnerung daran, dass ich sterben werde.

Totenschädel wirken auf uns Heutige ja nur noch pittoresk. Sehen wir so einen Knochenhaupt, denken wir an den Totenkult in Mexiko und bekommen Lust auf eine herbstliche Reise in den fernen Süden.


(Quelle: www.mexiko4u.at)

Über wichtige Fragen im Leben sollte man deshalb nicht angesichts eines Totenschädels entscheiden. Sondern in der Nähe eines Altersheims (ja, ich weiss - es heisst korrekt hochdeutsch "Altenheim" - aber lasst mich hier schreiben, wie es mir das Leben in die Nervenenden meiner Finger graviert hat: Auf Schweizerdeutsch heisst es Altersheim, oder marketingdeutsch: Betagtenzentrum).

Bei einem Gang am Betagtenzentrum in unserem Quartier vorbei habe ich mich vor sieben Jahren gegen das Kinderkriegen entschieden. "Du wirst einmal an Weihnachten hier drin sitzen und ganz allein sein", sagte eine innere Stimme zu mir. Ich antworte: "Ja, ich weiss. Das ist traurig. Aber leben muss ich jetzt." Ich staunte, wie gelassen ich dabei blieb.

Und dieser Tage schritt ich mit lautem Gedröhn in den Ohren durch vorabendliches Verkehrschaos im Westen unserer Stadt. Ich war grauenhaft schwerhörig. Es dunkelte schon. Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel am Himmel über mir ein paar Vögel vorbeiziehen. "Störche?" dachte ich. Ich hob den Kopf gen Himmel. Es waren wohl nur Krähen, aber ich sah die Weite über mir und plötzlich klärten sich wenigstens meine Gedanken. "Es könnte Dir noch schlechter gehen", dachte ich. Sekunden später sah ich zu meiner Rechten den Turm des örtlichen Betagtenzentrums Eichhof.


(das Hochhaus links im Hintergrund)

Da schoss es mir durch den Kopf: "Eines Tages wird es Dir schlechter gehen."

Seither keimt in mir so etwas wie Optimismus. Eine Art Neugier auf die Taubheit.

6
Jan
2013

Im Märchenwald

Der Surseer Wald ist ein stiller, ein tiefer Wald. Ein märchenhafter Wald. Hier irgendwo könnte der Prinz sich in sein Schneewittchen verliebt haben.


(Quelle: https://einestages.spiegel.de)

Hier irgendwo könnten Hänsel und Gretel sich verirrt und ein Hexenhäuschen gefunden haben. Auf meinem Weg nach Norden durchstreifte ich den Surseer Wald an einem Novembertag. Ich war mutterseelenallein, nur ein Radsportler mit einem teuflischen, rotschwarzen Trikot pfiff mir mehrmals um die Ohren.

Ich verliess den Wald am nordwestlichen Ende und blickte über eine riesige Ebene - das Surental. Es scheint immer noch in jenem Dornröschenschlaf zu liegen, aus dem das nahe Städtchen Sursee eben erwacht: Die Strassen sind hier einspurig, die Häuser spärlich und allesamt uralt.

Ich stand und staunte und holte tief Luft. In so weitem Land lässt es sich gut atmen.

Dann stieg ich den nordwestwärts Hang Richtung Knutwil hinauf. Erst hier sah ich, dass auch in dieser Gegend das 21. Jahrhundert nie weit weg ist. Bei Knutwil spielt es sich gut versteckt hinter der Krete des Hügels ab: Dort keuchen die 40-Tönner auf der A2 die Knutwiler Höhe hinauf. Die Stelle ist berüchtigt - weil es hier öfter und matschiger schneit als anderswo. Und weil die Laster hier warten müssen, wenn am Gotthard zu viel Verkehr ist.

Aber welch märchenhafte Aussicht von diesem Hang auf die Alpenkette!



Knutwil selber - ein kleines Dorf - erreichte ich zur Mittagszeit. Es war ebenfalls menschenleer und könnte einer Illustration in einem Grimm'schen Märchenbuch nachempfunden sein.



Bei so viel Märchenhaftigkeit muss man von Glück reden, dass in dieser Gegend immer wieder solche Schilder zu sehen sind:



Sie zeigen im Luzernischen die Geburt eines Kindes an - oft sind es Gotten oder Götti, die der jungen Familie ein solches Standbildchen mit Namen und Geburtsdatum des Kindes vors Haus stellen. Die vielen Tafeln zeigen: Der Luzerner Landschaft werden die kleinen Märchen-Konsumenten nicht so schnell ausgehen.

5
Jan
2013

Schiesswütiger Invalider

Im hübschen Schweizer Bergdorf Daillon lief diese Woche ein 33-Jähriger Amok.



Nach der Tat in Daillon (Quelle: www.blick.ch)

Der Mann erschoss mit einem Karabiner drei Frauen und verletzte zwei Männer. Die Schweizer Presse machte grosses Aufhebens darum, dass das Mann bei der Invalidenversicherung (IV) eine Rente bezog. Die Boulevard-Zeitung Blick etwa liess gestern die "Stiefmutter" des Täters, Gisèle Zermatten, auf der Front zu Wort kommen: "Die Behörden sind schuld", sagt sie in fetten Lettern. Und weiter: "Florian B. (33) ist IV-Rentner und trinkt zu viel. 'Er bekam Geld fürs Nichtstun. Dabei hätte er problemlos arbeiten können'."

Als Person mit einer chronischen Krankheit damit potenzielle IV-Rentnerin finde ich diese Schlagzeile ungeheuer diskriminierend. Sie behauptet nicht nur, dass die Sozialversicherung Schuld am Amoklauf sei. Sie legt auch bedenklich nahe, dass es sich bei IV-Rentnern im Allgemeinen um faules, kriminelles Pack handle, das nicht mit Versicherungsgeldern durchgefüttert gehöre. Solche Schlagzeilen gestern sind ein Symptom für die hässliche Demontage, die unser reiches Land zurzeit mit einer an sich stolzen sozialen Errungenschaft betreibt.

Nun gut. Frau Zermattens Aussagen sollte man mit Vorsicht geniessen. Als "Stiefmutter" von Florian B. hat sie Interesse daran, Schuldige für den Amoklauf woanders als im nächsten Umfeld des Täters zu finden. Aber vielleicht sollte den Frau Zermattens dieses Landes trotzdem mal jemand erklären: Für die allermeisten Leute ist es ungeheuer demütigend, auf dem Arbeitsmarkt nicht (mehr) zu bestehen. Wenn das Gefühl, nichts nütze zu sein, auch mal in mörderische Wut umschlägt, ist das verwerflich und tragisch. Aber es ist gewiss nicht die Schuld der IV. Und es sagt nichts über andere IV-Rentner aus.

Ob Herr B. seine Rente zu Recht bezog, können wir als Aussenstehende schlicht nicht beurteilen. Es gibt ernste Behinderungen, die Stammtisch-Experten nicht sehen.

Edit 6. Januar: Die Sonntagszeitung lässt heute Bekannte des Täters zu Wort kommen. Ihre Aussagen belegen, dass der Täter seine Rente sehr zu recht bezog, etwa dies: B. habe Halluzinationen gehabt. Und, so ein Freund: "Seine Verwandten wollten, dass er sich zusammenreisst, obwohl bei ihm eine Schizophrenie diagnostiziert worden ist." Offenbar hat die IV sogar versucht, ihn wieder ins Arbeitsleben einzugleidern. Ein Versuch, der für B. in der psychiatrischen Klinik endete. Tatsächlich sind die Eingliederungsversuche der IV - vorsichtig ausgedrückt - nicht über jeden Zweifel erhaben. Sozialhilfe-Experte Walter Schmid fordert in der gleichen Ausgabe: "Wenn jemand aus psychischen Gründen eine IV-Rente bekommt, muss klar festgelegt werden, wer sich um die Person kümmert. Wir müssen verhindern, dass diese Menschen in totaler Isolation vereinsamen. Das kann ein Nährboden für solche Taten sein."

Bedenkenswert.

1
Jan
2013

Das geköpfte Huhn

Endlich! Die Biografie meines Vaters ist fertig. Sie ist nicht so umfangreich geworden, wie ich gehofft hatte - aber immerhin: 36 Seiten, und Books on Demand lieferte das Werk gerade noch rechtzeitig, so dass wir es meiner Familie unter den Christbaum legen konnten.

Natürlich, das Bändchen wird nie einen Literaturpreis gewinnen. Frau Frogg, die unbarmherzigste Kritikerin von Frau Frogg, war sogar höchst ungnädig: "Das Zielpublikum ist unklar definiert. Entsprechend stillos ist die Sprache, und entsprechend ungenau sind gewisse Dinge herausgearbeitet. Die Kinder werden es nicht verstehen", sagte sie. "Ja, klar, ich habe das Buch ja auch für meinen Vater geschrieben, für wen denn sonst?!" maulte ich. Aber ich hatte beim Schreiben auch ein bisschen auf seine Enkelinnen geschielt - ohne wirklich für Kinder zu schreiben. Kurz - ich hatte meinen eigenen Ansprüchen nicht genügt.

Aber dann besuchte ich dieser Tage meines Vaters jüngere Enkelin Carina (7), mein Gottenkind. Stolz hielt sie mir das Buch entgegen. "Ich habe es an einem Abend gelesen!", sagte sie. "Die Geschichte, wo der Opapi dem Huhn den Kopf abhaut, die fand ich am lustigsten."

Da breitete sich Freudestrahlen auf dem Gesicht von Frau Frogg aus, auch wenn gerade die Geschichte vom geköpften Huhn für heutige Kinder vielleicht nicht optimal geeignet ist, die soll man ja nicht zu sehr mit Blut und Gewalt drangsalieren. Aber hier ist sie: Mein Vater arbeitete als als Jugendlicher als Knecht auf einem Bauernhof in der Westschweiz. Eines Tages befahl ihm Madame, ein Huhn zu schlachten. Vater Frogg, selber Bauernsohn, hackte dem Federvieh souverän den Kopf ab. Doch der Vogel hatte heftige Nervenzuckungen, riss sich los und rannte ohne Kopf auf die Bäuerin zu. Das Schicksal wollte es, dass Madame gerade an jenem Tag eine frische, weisse Schürze trug - die war nach dem Zusammenstoss mit dem kopflosen Huhn von oben bis unten voller Blut.

Fazit: Man sollte die Auffassungsgabe seiner Nichten nicht unterschätzen. Und: Vielleicht kann man der Nachwelt nicht auf Anhieb die wichtigsten Dinge vermitteln. Aber es bleibt doch immer etwas hängen.

30
Dez
2012

Neujahrswünsche

Bevor ich Euch allen ein glückliches Neues Jahr wünsche, erlaube ich mir einen kleinen, persönlichen Jahresrückblick - wer Negatives nicht aushält, geht am besten gleich zum zweitletzten Abschnitt.

Darf man in einem Blog schreiben, dass man ein annus horribilis* hinter sich hat? Ein schreckliches Jahr? Ein beschissenes Jahr? Sollte man es? Fordert man die Leser damit nicht geradezu heraus zu Kommentaren, die man dann doch lieber nicht lesen möchte?

Gut, die Queen hat einmal gesagt, sie hätte ein annus horribilis hinter sich. Das war 1992, als ihr die Ehe-Trümmer ihrer Kinder um die Ohren flogen.


(ein Bild von ihrer Rede zum 40-jährigen Thronjubiläum, in dem sie den Begriff verwendete. Quelle: https://darkbluejacket.blogspot.ch/)

Aber die Queen ist ein Staatsoberhaupt. Sagt sie so etwas, ist das halb Schuldbekenntnis, halb Trostrede für die ganze Nation.

Ich bin ja nur eine Bloggerin. Und eine Bloggerin sollte sich stets als über der Sache stehend und mit dem Leben versöhnt darstellen. Aber ich schreibe es jetzt trotzdem: Ja, ich habe ein annus horribilis hinter mir.

- Im Januar verschlechterte sich der Zustand meines Gehörs, und es erholte sich das ganze Jahr über nur noch für kurze Phasen. Musik konnte ich noch an etwa 14 Tagen hören, meist im Sommer, zum letzten Mal am 19. Oktober, für zwei Stunden. Fernsehen mit Untertiteln ist ganz normal geworden, Telefonieren oft schwierig, manchmal unmöglich. In der zweiten Jahreshälfte wartete ich oft zwei oder drei Wochen auf einen einzelnen Morgen, an dem ich ein paar wichtige Telefonate erledigen konnte. Wo möglich, habe ich auf E-Mail und SMS umgestellt.

- Schon Anfang Jahr bekam ich die wirtschaftlichen Folgen meiner Erkrankung zu spüren: massive existenzielle Verunsicherung - mit spürbaren Folgen für mein Gehör, ein Teufelskreis.

- Mitte Juni fuhren wir dennoch in die Ferien ins Tessin. Ich wäre lieber nicht gefahren - wegen des Geldes und wegen meiner Ohren. Ich tat es für den Kulturflaneur. Geplant waren drei Wochen. Nach zwei Wochen durfte ich dann tatsächlich schon wieder zurück in die Deutschschweiz - allerdings hätte ich mir dafür erfreulichere Gründe vorstellen können. Wir kehrten um, weil Herr Kulturflaneurs Vater erkrankt war. Er starb am 30. Juni.

- Der Sommer und Herbst steht im Zeichen des Abschieds vom Tigervater.

- Im September und Oktober wird bei mir die Lage an der wirtschaftlichen Front besonders heikel - mein Gehör gerät vollends aus den Fugen.

- Anfang November mache ich eine Erkenntnis, die auch noch ein weiteres Standbein meiner Existenz ins Wanken bringt. Das Thema eignet sich definitiv nicht zum Bloggen. Nur so viel: Zwei Tage lang kann ich nicht schlafen und nicht essen. Tagelang bin ich praktisch taub. Erst gegen Anfang Dezember habe ich die Sache erfolgreich verdrängt. Nicht verdrängen kann ich tägliche, kleine Erinnerungen daran. Und die Tatsache, dass sie mich im kommenden Jahr mit schwierigen Entscheidungen konfrontieren könnte.

- Die Festtage finden mich in der Folge oft unleidlich und mürrisch - gänzlich unerwartet. Bislang habe ich die weihnachtlichen Familientreffen stets geliebt. Dieses Jahr fühle ich mich von der Welt im Stich gelassen.

Dennoch: Morgen werde ich mit Herrn T. auch auf das vergangene Jahr anstossen - weil ich gelernt habe, dass selbst in einem annus horribilis das Leben einfach weitergeht. Und dass auch ein annus horribilis Lichtblicke hat. Manchmal sind sie viel besser sichtbar als in einem normalen Jahr. Ein schreckliches Jahr macht zudem dankbar - für die vielen guten Jahre, die man vor ihm hatte. Wie das Neue Jahr für mich wird? Daran denke ich jetzt erst mal nicht.

Aber Euch allen wünsche ich ein gutes, ein unbeschwertes, ein fröhliches 2013 mit Glück in der Familie und im Job!
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

Juni 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04
Lieber Herr Steppenhund,
Vielen Dank für diesen mitfühlenden Kommentar. Über...
diefrogg - 4. Jan, 15:50
Schlimm und Mitgefühl
Zum Job kann ich nichts sagen. Gibt es überhaupt keine...
steppenhund - 31. Dez, 04:38

Status

Online seit 7585 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 11. Jan, 15:20

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
development