19
Dez
2012

Enttäuschung im Tunnel

An manchen Tagen höre ich ziemlich gut. Dann amüsiere ich mich oft königlich über die Gespräche von Fremden im öffentlichen Verkehr. Zum Beispiel heute, als ich durch Luzerns neuen Eisenbahntunnel fuhr, den Hubelmatt- und Allmendtunnel.

Er ist im November eröffnet worden und erleichtert den Pendlern aus Ob- und Nidwalden die Zugreise in die Stadt. Zudem beendet er die Epoche der immer chaotischeren Staus vor den Bahnschranken in Luzern Süd. Hier und hier mehr darüber.

Unterwegs in den Kanton Obwalden hatte ich heute bei der Einfahrt ins 1300 Meter lange Loch natürlich hohe Erwartungen. Aber so ein Tunnel ist im Grunde etwas Enttäuschendes. Man sieht ja nichts als Wände. Im neuen Tunnel sind sie zwar diskret beleuchtet - aber dennoch einfach Wände. Und die unterirdische S-Bahn-Haltestelle Allmend/Messe ist zwar funkelnagelneu, aber auch sehr, sehr leer. Da wollte sich partout kein grossstädtisches U-Bahn-Feeling einstellen.

Amüsant wurde es auf dem Rückweg. Im Abteil schräg gegenüber sass ein Obwaldner Paar mit drei Kindern. Der älteste Bub, etwa acht, langweilte sich. "Däddy, wann kommt der neue Tunnel?" klönte er so ab Hergiswil im Zehnsekundentakt. Dann, kurz vor Horw setzte der Refrain ein: "Der neue Tunnel kommt gleich! Der neue Tunnel kommt gleich!"

Dann kam der neue Tunnel.

Stille. Dann der Bub: "Däddy, das ist ja gar nicht so dunkel!" Offenbar hatte er sich etwas viel Gruseligeres gewünscht.

17
Dez
2012

Verloren im Wald

Vor einem Monat habe ich meine Leser an einem äusserst unwirtlichen Ort hängen lassen. Ihr erinnert Euch: Meine Spazier-Exkursion nach Norden brach Mitte November an einem wohl mit ironischer Absicht "im Venedig" genannten Weg am Rand von Sursee abrupt ab. Mitten im Autobahnlärm.

So etwas ist schäbig und sonst nicht meiner Art. Aber ich habe eine halbwegs plausible Entschuldigung: Ich wusste schlicht nicht, wie ich die Geschichte meines Weitermarsches erzählen sollte. Real sah die Lage so aus: Vor mir lag der Surseer Wald. Ich hatte die Wahl zwischen drei Routen nach Norden, und am Wegrand standen auch zwei gelbe Wegweiser. Aber keiner zeigte exakt nach einem der möglichen Ziele. Es war wie verhext. Ich sah vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.



Narrativ spielte ich an dieser stelle auf Zeit. Ich schrieb die viel beachtete Kolumne Geheimnisse aus der Luzerner Provinz über Kuriositäten unter den Luzerner Flurnamen. Das machte Sinn, denn vor mir lagen zwei mögliche Ziele, deren Namen unbedingt zu den Kuriositäten zählen: "Chnutu" (Knutwil) und, preisverdächtig, "Teret" (St. Erhard) - soll mich keiner fragen, welches Lautgesetz so etwas hervorgebracht hat!

Aber dann brachte ich Teret und Chnutu in meiner Kolumne nicht einmal unter. So schwierig ist es manchmal, in einer Geschichte von A nach B zu kommen!

In der Realität folgte ich nach einigem Zögern zunächst der Sure. In meinem letzten Beitrag habe ich sie noch Suhre genannt. Unterdessen hat mich aber ein Bewohner der Gegend unwirsch darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Fliessgewässer erst im Kanton Aargau ein "h" aneignet. So viel zu den hauchfeinen Unterschieden, die der Kantönligeist bei uns erzwingt.

Überhaupt gehört die Sure zu den Gewässern, die viele Leute mit einem heimatseligen Leuchten in den Augen erwähnen. Weshalb, ist mir immer noch schleierhaft. Für mich ist und bleibt sie ein unscheinbares Flüsschen mit einer undefinierbaren Farbe.



Vielleicht eignet sie sich im Kanton Aargau mit dem "h" eine herbe Schönheit an - wer weiss? Ich nicht. Nach einigen hundert Schritten hatte ich genug von ihr gesehen. Ich bog ab und folgte meinem Instinkt und einem Wegweiser Richtung Knutwil. Erst jetzt geht die Geschichte weiter - und wird richtig märchenhaft! Aber davon später.

15
Dez
2012

Als ob nichts wäre

Ich bin ein ziemlich kommunikativer Typ. Früher habe ich offen über alles und jedes gesprochen - auch über meine Probleme. Oft auch mit Leuten, die ich nicht so gut kannte. Aber inzwischen habe ich dank meiner Schwerhörigkeit Probleme, die keinen guten Apero-Konversationsstoff mehr hermachen. Probleme, die gesunde Menschen ängstigen, anöden oder überfordern.

So übe ich mich darin, in allen möglichen geselligen Situationen geschickte Konversation zu machen - auch wenn meine Probleme mich selber gerade ängstigen, anöden oder überfordern. Ich beobachte auch geradezu fasziniert, wie andere ihre innere Anspannung in sozialen Situationen überspielen. Zum Beispiel Don und Betty Draper in der Serie Mad Men, von der ich mir die ersten Folgen auf DVD ausgeborgt habe.



Die Welt von Mad Men ist für mich geradezu idealer Recherchestoff - reich an latenter Verzweiflung, die vor den eleganten, aber potenziell boshaften Nachbarn und Kollegen verborgen sein will. Als es in der Ehe der Drapers in der Folge 9 schon mächtig kriselt, trifft eine sichtlich ausgemergelte Betty ihre Freunde. "Wie geht es Dir?" fragt man sie. Sie antwortet bleich lächelnd: "Es ist ein wunderschöner Tag heute."

Auch bei Don im Büro wird stets gute Miene gemacht. Nur vorübergehend bricht Aufregung aus - als Kollege Freddy Rumsen sich vor einer wichtigen Sitzung buchstäblich in die Hosen pisst - Jahre in der stets alkoholseligen Werbebranche fordern ihren Tribut. Die Chefs beschliessen, ihn zu feuern. Macht deswegen irgendwer ein betretenes Gesicht? Nicht doch! Im Gegenteil! Freddy feiert sein bitteres Karriere-Ende in einem feierlichen Besäufnis mit seinen beiden Chefs.

Ich schaue diesem Gebaren gebannt zu und bin zufrieden. Ich habe irgendeine Lektion gelernt. Erst später wird mir klar: Für mein zurzeit drängendstes Problem wird es in "Mad Men" keine Lektion geben: Wie verhalte ich mir an einem Apero, wenn jemand auf mich einredet und ich nur einen Drittel von dem verstehe, was er sagt?

Dafür gibt es überhaupt nirgends eine Antwort. Nicht einmal meine tauben Freunde kennen dafür irgendwelche Patentrezepte.

9
Dez
2012

Klarstellung

Nach meinem Eintrag von gestern scheint eine Klarstellung vonnöten, nämlich diese: Niemals ging es mir darum, die Solidarität mit Frauen aufzukünden, die Kinder haben, dazu beruflich ihren Weg gehen und finanziell unabhängig sein wollen. Es ist für mich absolut selbstverständlich, dass all das möglich sein soll. Ich wollte lediglich sagen: Mich stört der zuweilen der etwas wehleidige Soundtrack zum Thema.

8
Dez
2012

Flucht vor dem Weihnachtsrummel

Heute ist in der katholischen Schweiz ein Feiertag: Mariä Empfängnis. Er ist ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, das wie ein Findling in unserem stromlinienförmigen Büro- und Shopping-Alltag liegt - keiner weiss, warum. Wer nicht aufpasst und am Abend vor einem solchen Feiertag nach 16 Uhr noch schnell ein Brot fürs Abendessen einkaufen will, donnert mit Vollgas in den erratischen Block: Er steht vor verschlossenen Ladentüren. Und am Feiertag selber war früher total tote Hose.

Jahrzehntelang waren an Mariä Empfängnis in der Innerschweiz nicht nur die Einkaufsstrassen leer, sondern auch die Kirchen. Voll waren dagegen die Züge nach dem reformierten Zürich: Die Innerschweizer trugen im grossen Stil Weihnachts-Umsätze nach Downtown Switzerland, die Luzerner Ladenbesitzer machten lange Gesichter. Bis der Kantonsrat durchgriff und den 8. Dezember offiziell zum Tag der offenen Läden erklärte. "Mary Shopping Day", nennt ihn der Kulturflaneur. Und genau das ist er geworden. Wer vorweihnachtlichen Einkaufsrummel meiden will und kann, meidet an diesem Tag am besten die Luzerner Altstadt.

"Ich gehe spazieren, irgendwo aufs Land", sagte ich am Morgen denn auch zum Kulturflaneur. "Da wirst Du die Moon Boots anziehen müssen", sagte er. Und wirklich: So sahen draussen die Strassen aus.



Moon Boots brauchte ich keine, auch wenn die Trottoirs nicht überall so gut geräumt waren wie hier auf dem Bild. Ich stapfte durch den Schnee, umkreiste die Altstadt und machte den einen oder anderen Fotohalt - etwa unter dem berühmten Männliturm.



Ich sah Menschen mit gehetzten Mienen stadteinwärts streben und war selber viel langsamer als erwartet. Noch am Stadtrand musste ich Mittagsrast machen. Ich begab mich ins Restaurant mit dem weihnachtlichen Namen Drei Könige. Dort ass ich gut und währschaft und stellte amüsiert fest, dass eine bekannte Schweizer Biermarke den Winter im Kleinen zelebriert.



Gegen den Grossen draussen kommt sie so nie an, dachte ich.

Dazu blätterte ich in der aktuellen Annabelle. Sie ist opulent mit goldener und silberner und duftender Werbung verziert und überhaupt einfach opulent - ein Magazin für Frauen, die über Ohrringe für 9000 Franken nachdenken können. Ich stellte erstaunt fest, wie oft solche Frauen sich etwas Gutes tun müssen. "Rundum abschalten und sich verwöhnen lassen", lautete ein Titel, und ich lernte beim Lesen: Um rundum abschalten zu können, müssen privilegierte Frauen unglaublich viel aufwenden, an Geld, an Zeit, an Reisebereitschaft. Die Ärmsten!

Ich trank ein Käfeli, legte die Annabelle weg, zahlte und bestieg den Sonnenberg. Dort oben verfiel ich meinem ganz eigenen Weihnachtszauber - dem lichten Momenten und den harten Kontrasten eines Wintertags.

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