26
Jan
2013

Braut in Schwierigkeiten

Niemand sollte am schönsten Tag seines Lebens eine so leidende Miene machen müssen wie die Braut heute auf dem Panorama-Turm auf Melchsee Frutt. Die junge Frau sah aus, als hätte man sie hinaus an die Kälte gezwungen. Ein Wunder, dass sie nicht auch noch violette Arme hatte und schlotterte: Nichts als zwei schmale Streifen Hochzeitskleid-Tüll bedeckte ihre Schultern. Ihre Arme waren splitternackt - und es war minus 8 Grad. Heute war der bislang kälteste Tag dieses Winters.

Hier der Turm:



Wer genau hinschaut, sieht rechts hinten auf dem Balkon noch den halben Bräutigam in Schwarz und den Rock des Hochzeitskleids - näher traute ich mich nicht heran. Die Frau in Weiss wurde schon genug angestarrt - Scharen von Skifahrern kamen gerade aus dem Lift im Turm. Klar: Findet irgendwo eine Hochzeit statt, wollen immer alle die Braut sehen. Nur der Bräutigam würdigte sie keines Blickes. Ist er Analphabet im Lesen von Gesichtsausdrücken? Oder interessierten ihn die Ausführungen des Fotografen einfach mehr als die Augen seiner Frau?

Sie jedenfalls litt, ohne aufzubegehren. Und wir gingen dann weiter. Wir wollten uns ja nur ein bisschen umsehen. Früher hat Herr T. mich oft hierher in die Skiferien überredet. Frau Frogg, im Grunde eine Anti-Skifahrerin, traf jeweils ebenfalls mit Leidensmiene auf der Melchsee-Frutt ein. Was tut man nicht alles den Männern zuliebe! Doch dann versöhnte sie sich stets mit dem stillen Ort in den Bergen - und mit Herrn T. Noch im Januar 2009 brachte ich einen schnuckeligen Fotoroman von dort oben nach Hause.

In den letzten Jahren ist dort viel gebaut worden. Es ist mehr Betrieb. Unsere Schaulust wurde befriedigt. Wir reisten wieder ab.

Der jungen Braut wünsche ich, dass auch sie die Schnuckeligkeit der Frutt noch zu spüren bekommt. Und dass sie in vielen, vielen Jahren einer Schar von Grosskindern ihr Hochzeitsbild mit dem Alpenpanorama im Hintergrund zeigen und ausrufen kann: "Und stellt Euch vor: Es war minus acht Grad!"

25
Jan
2013

Charmanter, schwuler Plauderer

Wer sein Büchergestell aufräumt, bringt zuweilen erstaunliche Schätze an den Tag. Ich zum Beispiel fand das hier aus dem Jahre 1980:



Das heisst: Ich fand natürlich die englische Originalausgabe des Romans, die Earthly Powers heisst. Aber sie hat ein unansehnliches Cover - deshalb hier jenes der deutschen Übersetzung. Gekauft hatte ich es in den neunziger Jahren, gelesen noch nicht. Wäre ich meinen eigenen Regeln für die Bücherentsorgung gefolgt, hätte ichs ins Brockenhaus gebracht. Statt dessen las ich es - sofort. Es ist ein brilliantes, ein merkwürdiges Buch.

Erzählerisch verlangt er dem Leser nicht allzu viel ab - jedenfalls nicht auf der Oberfläche. Ich-Erzähler ist der 81-jährige britische Schriftsteller Kenneth Toomey, der seine Lebensgeschichte höchst unterhaltsam hinzuplaudern weiss. Aber man sollte ihm - und das ist die Herausforderung - nicht kritiklos begegnen. Seine Homosexualität dürfte 2013 für niemanden mehr einen Diskussionspunkt darstellen. Doch die onkelhafte Ignoranz, mit der er der zornigen Selbstsuche seines schwarzen Liebhabers Ralph begegnet, darf man durchaus hinterfragen. Und 1939 macht er sich gar kurz zum Komplizen der Nazis. Auch darüber lässt sich diskutieren.

Burgess packt die grossen, die ewigen Fragen bei den Hörnern: jene nach Gut und Böse, nach Macht und Unvermögen - und er befasst sich mit Religion - speziell dem Katholizismus - und den politischen Strömungen des gesamten 20. Jahrhunderts. Dabei nimmt er sich selber nicht zu ernst und verwöhnt die Leserin immer wieder mit hinreissenden sprachlichen Köstlichkeiten.

So lesen sich 650 Seiten schnell - auch wenn es gegen Schluss sehr plätschert und ich mich eine Weile lang fragte, wo das Ganze jetzt noch hinführen soll. Ich habe weitergelesen und wurde reich belohnt: mit einem Donnerschlag zum Schluss stellt Burgess alles in Frage - und lässt die Leserin äusserst nachdenklich zurück. Fazit: Die Welt ist schlecht, und wir können das Böse wahrscheinlich nicht aufhalten. Aber es schadet nicht, wenn wir es wenigstens versuchen.

Das Buch kehrt jetzt nicht nur in mein Büchergestell zurück. Es erhält dort sogar einen Ehrenplatz.

22
Jan
2013

Bis auf die Knochen

Heute waren wir im Zentrum Paul Klee in Bern. Ich bin noch nie dort gewesen. Ich fand das Ganze gelungen, wenn auch ein bisschen zu wohl situiert, zu familiengerecht, zu weichgespült.

Bis in der Ausstellung Vom Japonismus zu Zen diese bange Frage an den Tod auf meinen Sehnerv traf:

"Wird wenigstens ein Lieblingslied
zu hören sein
im Ohr meiner Gebeine?"

Er stammt aus dem Gedicht eines japanischen Poeten zu diesem Bild von Paul Klee.


"Tod und Feuer", 1940, Quelle: mypicasso.com

Da strömte die Erinnerung an einen meiner späten Lieblingssongs durch mein Fleisch und riss einen unterirdischen See des Schmerzes in mir auf.

20
Jan
2013

Hippies im Schnee


(Bank bei Uffikon LU, Bild vom pedestrian)

Die fünfte Etappe meines Wegs nach Norden enttäuschte aussichtsmässig. Ebensogut hätte ich in eine kaputte Bildröhre starren können, so heftig schneite es. Dafür hatte ich diesmal einen Begleiter: den pedestrian. Mit ihm könnte ich auch in einer Dunkelkammer heitere Runden drehen. Wir haben ja immer so viel zu berichten! Immerhin hatte er die Geistesgegenwart, die Flowerpower-Bank oben zu fotografieren.

Meines Wissens ist sie die einzige Sehenswürdigkeit auf der Strecke Knutwil - Eriswil - Uffikon - Dagmersellen. Uffikon war in den nuller Jahren für kurze Zeit berümt: als Hauptsitz des Künstlers Wetz. Er schuf dort mit überboderndem Witz und gigantischer Schaffenskraft ein Museum und nannte es stinkfrech das grösste KKL. Das hiess angeblich "Kunst und Kultur auf dem Land", war aber auch eine Anspielung auf das gleichnamige Konzerthaus mit internationaler Ausstrahlung in Luzern. Später stellte er auch noch einen Tempelhof in die Gegend.


(Quelle: www.sf.tv)

Damit überforderte er die Nachbarn. "Ein Tempel inmitten von Bauernhöfen? Sinnlos!" befanden sie. Wetz musste gehen - von schweizweitem Mediengetöse begleitet. Er waltet heute in Beromünster.

Ich wählte die Route aber nicht wegen Wetz, sondern wegen der Autobahn, die hier durch ein - im Sommer - unglaublich grünes Tal führt. Ich habe sie früher oft befahren und wollte sie einmal von oben sehen. Doch wir sahen sie nicht. Wir hörten sie nur. Statt dessen sahen wir - als sich das Schneegestöber für einen Moment lichtete - unter uns einen Strassenkreisel.

"Das", sagte der pedestrian fast aufgeregt, "war früher die Kreuzung von Buchs!" Buchs ist ein an sich unbedeutendes Dorf auf der anderen Talseite. Der pedestrian ist aber ortskundig und berichtete, dass die leere Strasse unter uns vor der Eröffnung der Autobahn 1980 die Hauptlinie gewesen sei, auf der man vom Nordkap nach Sizilien fuhr. "Im Sommer gab es hier oft lange Staus."

An jenem Tag im Dezember aber schien der Kreisel nur die linke These zu widerlegen, dass es keinen Sinn macht, neue Strassen zu bauen - weil sich alte und neue Strassen schnell wieder mit noch mehr Verkehr füllen. Der Kulturflaneur hat das alles hier einmal anschaulich erklärt. Der Kreisel von Buchs aber war an jenem Tag geradezu gespenstisch leer - derweil sich die nahe Autobahn geschäftig anhörte.

Vielleicht inspiriert von der Bank oben kamen wir später auf das legendäre Festival Woodstock zu sprechen, genauer: Auf den Film Taking Woodstock von Ang Lee.


(Quelle: outnow.ch)

Auch dem pedestrian hatte er gefallen. Etwa, weil er zeige, was passiert, wenn solch ungeheure Menschenmassen in ein Gebiet mit dünner Infrastruktur einfallen. Ich musste lachen. "Als würden sie sich alle auf die Kreuzung von Buchs zubewegen!" sagte ich.

Durch das Schneetreiben konnten wir die Geister einer Hippiekarawane schemenhaft sehen.

16
Jan
2013

Achtung Trickbetrug!

Es war heute um 10.15 Uhr. Ich war auf einem wenig begangenen Strässchen* in Luzern unterwegs. Ein Mann kam mir entgegen. Genau vor mir bückte er sich - da lag ein Ring im frisch gefallenen Schnee. Er hob ihn auf. Ich dachte: "Hübsch! Hoffentlich bringt er ihn aufs Fundbüro!" Ich hielt gar nicht an.

Der Mann rief mir nach: "Goldring gefunden! Sehen Sie!" Er eilte mir nach und hielt mir aufgeregt den Klunker unter die Nase. Er hatte eine kleine Alkoholfahne und sprach gebrochen Deutsch. "Ist Gold, sehen Sie! Stempel!" Er zeigte mir die zwei kleinen Gravuren auf der Innenseite des Schmuckstücks.


(Quelle: www.ksta.de)

Erst jetzt leuchtete irgendwo in meinem Hirn ein Alarmlämpchen auf. Da war doch etwas mit Trickbetrügern und gefälschten Goldringen und Stempeln... "Vous parlez français?" fragte der Mann. Ich sagte: "Un peu." Ich höre heute gut. Ich traute mir Französisch zu. Gleichzeitig arbeitete mein Hirn fieberhaft, aber langsam wie ein überlasteter Arbeitsspeicher.

Ich solle den Ring nehmen, sagte er. Er könne ihn nicht tragen - er zeigte mir seine Finger, die zu dick für den Ring waren. "Non, non, gardez-le!" sagte ich. Ich wollte nichts mit der Sache zu tun haben. Aber er war unnachgiebig. "La police..." sagte er und zeigte mit Gesten, dass er öfter gefilzt werde. Da nahm ich den Ring, bedankte mich und ging weiter. Immer noch drehte es in meinem Kopf leer.

Wieder eilte der Mann mir nach. Ob ich ihm nicht etwas Geld geben könne, er habe Hunger, sagte er. Inzwischen hatte mein Hirn das richtige File zu diesem Vorfall heruntergeladen. Jetzt musste ich es nur noch öffnen. Ich kramte in meinem Portmonee und gab dem Mann einen Fünfliber**.

Das sei nicht genug, bedeutete er mir. Er wolle mehr, schliesslich... Er wollte gerade ziemlich laut werden, als mein Erinnerungsvermögen endlich glasklare Daten lieferte: Natürlich! Genau eine solche Story hatte ich kürzlich in der Lokalzeitung gelesen. Die Goldringe seien gefälscht - man erkenne es am Doppelstempel. Mehrere ältere Leute seien auf den Trick hereingefallen und hätten den Klunker beim Goldschmied gegen Bares eintauschen wollen.

"ça suffit, Monsieur!" sagte ich bestimmt, legte den Ring wieder in den Schnee und ging weiter.

Seid gewarnt, Leser! Ähnliche Geschichten sollen sich auch anderswo zugetragen haben, etwa in Köln, Paris, Bochum und Mönchengladbach.


* Für Ortskundige: an der Ahornstrasse im Neustadtquartier
** Ein Fünffrankenstück

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