2
Dez
2012

Erblinden oder ertauben?

Kürzlich habe ich mit einem jungen Radiomann zu Mittag gegessen. Wir sprachen übers Ertauben - wenn wunderts. Er war es, der die Frage aufbrachte, ob Ertauben oder Erblinden schlimmer sei. Im Normalfall bin ich ja dagegen, über diese Frage überhaupt zu diskutieren, erst recht mit gesunden Menschen. Aber für einen Radiomann macht man in dieser Frage eine Ausnahme. Er sagte: "Meine Freundin ist DJ. Und sie sagt, sie würde lieber ertauben als erblinden. Denn Musik könne man auch im Kopf hören." Ich nickte und schwieg. Ich wollte sein Vertrauen in die Macht des Gedächtnisses nicht erschüttern.

Aber ich war damals schon skeptisch. Heute bin ich sicher: Ich bin - jedenfalls im Moment - gar nicht in der Lage, im Gedächtnis Musik zu hören. Der wahnsinnige Keyboarder in meinen Ohren, der Tinnits, übertönt die lieblichsten Klänge, an die sich mein Gehirn erinnern könnte. Er wechselt zwar mittlerweile ein paarmal im Tag das Riff. Das macht die Sache etwas Interessanter. Aber er ist immer noch so laut wie der Pilatusplatz abends um 17 Uhr.

Dieser Gedäcthnisverlust ist bemerkenswert, denn früher hatte das Radio in meinem Kopf immer einen Ohrwurm laufen - meist so lange, bis er mich wirklich nervte. Damit ist es vorbei.

"Was für ein geistloses Leben!" werden Musikfreunde unter Euch sagen. Da antworte ich: Ja, es ist geistlos. Es ist, als wäre mein Leben eine Höhle geworden, durch die ich einfach durchmuss. Eine Höhle, in der pausenlos Wasser auf meine Schultern prasselt. Es ist nicht so schlimm wie ich befürchtet habe. Es ist auszuhalten. Dennoch: Ich bin vollauf damit beschäftigt, mich durch diese Höhle zu kämpfen.

Als ich mich letzthin plötzlich doch an einen Fetzen Musik erinnerte, war ich nahe dran, in Tränen auszubrechen. Aber ich will nicht in Tränen ausbrechen. Das raubt mir nur Kraft. Und meine Kraft brauche ich, um durch die Höhle zu kommen.

28
Nov
2012

Die gute Nachricht

Was habe ich nicht alles aufgegeben wegen meiner leidigen Ohrengeschichte! Zwei oder drei Berufskarrieren, Ferien in der Türkei, das Autofahren...

Das Autofahren vermisse ich überhaupt nicht. Die Türkei vermisse ich nur ein bisschen. Und was beruflich aus mir hätte werden können, überlege ich mir nicht mehr. Ich habe alle Hände voll zu tun mit der Frage, was noch aus mir werden soll.

Neulich dachte ich dann ernsthaft darüber nach, ob ich nicht besser meinen Gottenbub Tim (7) aufgeben würde. Nicht, weil ich ihn nicht mehr mag. Im Gegenteil. In den letzten paar Wochen habe ich nur einfach an den meisten Tagen grauenhaft schlecht gehört. Ich hatte Nervenflattern bei der Vorstellung, mit ihm an einem öffentlichen Ort allein zu sein. Man stelle sich vor: Der Bub brüllt, er müsse dringend... zum Beispiel aufs WC. Die erwachsene Aufsichtsperson fragt: "Hä!?" und nochmals "HÄÄ?!" und nochmals "HÄÄÄ!" Keine gute Idee. Ich überlegte mir schon, was ich sagen würde, wenn jemand von der Vormundschaftsbehörde uns beide in einer verzweifelten Situation auf der Strasse stellen würde.

"Der Bub hat eine fähige Gotte verdient", dachte ich.

Aber dann traf ich Tim doch. Wie durch ein Wunder hörte ich an jenem Tag gar nicht so schlecht. Ich staunte, wie gross er geworden ist. Ein liebenswertes Schlitzohr - er schrieb mir sofort eine Weihnachts-Wunschliste, weil ich nicht so genau verstand, was er wollte - irgend so etwas Smartphones-artiges. "Für Fr. 79.90 bei M-Budget", schrieb er säuberlich daneben. Ich fands köstlich.

Wir machten zusammen Frischkäse (Rezept folgt). Er war neugierig und fleissig und machte Schelmereien mit dem Küchenwecker von Herrn T. Wir lachten. Wir brachten ein einfaches, aber absolut geniessbares Abendessen für sechs Personen zusammen.

Ich glaube, Gotte zu sein brauche ich vorläufig noch nicht aufzugeben.

24
Nov
2012

Ein schöner Popo

Es kommt selten vor, dass eine Story aus 20 Minuten mich fassungslos macht. Aber gestern stand ich mit dem Gratisblatt in der Hand und der Kiefer klappte mir herunter. Ich hob ihn wieder an und sagte laut: "Jesses! Auf diesen Trend habe ich 40 Jahre lang gewartet!"

"Welcher Trend?" fragte die Sekretärin bei uns im Geschäft, die neben dem Zeitungs-Stoss das Telefon hütete. Sie starrte mich an. Ich muss blass gewesen sein. Ich sagte: "Da steht, in der Schweiz würden sich immer mehr Frauen den Popo künstlich vergrössern lassen." Das wird dann etwa so aussehen:


(www.nac-clinic.com)

Die Sekretärin verstand meine Aufregung nicht. Sie wird meinen Hintern noch nie genau angeschaut haben - ich trage im Büro meistens Oberteile, die ihn kaschieren. Ich stammelte: "Das heisst doch, dass es wahrscheinlich modisch geworden ist, einen überdimensionierten Hintern zu haben!"

Die Sekretärin runzelte die Stirn. Sie konnte auch nicht wissen, dass ich ein Kind mit einem pummeligen Hinterteil gewesen bin - und dass mir noch dazu eine Grossmutter Kleider kaufte, die ein untrügliches Gespür für die schlimmstmögliche Rocklänge hatte. Meine Jupes zeigten der Welt stets meinen gut gepolsterten Allerwertesten, wenn ich mich bückte. Was bin ich ausgelacht worden!

So mit zwölf erlangte ich zwar wie durch Zauber eine ganz ansehnliche Figur - sagte man mir jedenfalls. Aber da blieb unverrückbar dieses üppig gerundete Gesäss. Und das Modediktat lautete ebenso unverrückbar: "Schlank sein, schlank sein über alles!" Der Schaden an meinem Selbstwertgefühl war passiert und irreparabel. Meine Mutter pflegte zu sagen: "Echte Männer stehen doch auf hübsche Rundungen." Oder: "Du hast ein Popöchen wie eine tausendfränkige Praline!"* Aber ich hörte immer nur: "Du hast einen fetten Hintern!"

"Du hast einen fetten Hintern", hörte ich auch dann, wenn ein Mann genüsslich zu mir sagte: "Was für ein gewaltiger Arsch!" Oder wenn Herr T. mir nach einer Reise zu den Schinkenfabriken von Andalusien an den Oberschenkel griff, lustvoll die Augen verdrehte und "Jamon! Jamon!**" flüsterte.

Und jetzt... jetzt... jetzt, wo ich Ende 40 bin und mein Gesäss als weiblicher Reiz seinem Verfallsdatum entgegendämmert... jetzt soll plötzlich alles anders werden?!

Ich weiss gar nicht, was ich machen soll!

* Zu diesem Satz gibt es zweierlei zu sagen:
1) Auf Schweizerdeutsch heisst das Hinterteil natürlich nicht Popo, sondern Füdli oder - despektierlich - Füdle. Und: Pralinen, zu deutsch feminin (die Praline) sind im Schweizerdeutschen sächlich (das Praliné, Betonung auf der ersten Silbe).
** "Schinken! Schinken!"

21
Nov
2012

Flirt verpasst

Die Symptome von Schwerhörigkeit sind jenen von leichter Demenz nicht unähnlich. Das schreibt der geschätzte Blogger-Kollege notquitelikebeethoven. Herr nqlb weiss, wovon er spricht - ist er doch selber Träger eines künstlichen Innenohrs. Er erntete für diese Formulieren dennoch Empörung. Verständlich - denn gewiss sind weit über 95 Prozent der Menschen mit Hörbehinderung geistig überdurchschnittlich wendig - wer schwerhörig ist, trainiert täglich seine Sozialkompetenz unter schwierigen Bedingungen. Und doch hat Herr nqlb nicht ganz unrecht. Wirkt doch die/der Schwerhörige gegen aussen oft verdutzt, leicht begriffsstutzig oder merkwürdig verschlossen.

Nehmen wir zum Beispiel Menière-Patientin Frogg. Typisch für ihre Krankheit ist, dass sie nicht an jedem Tag gleich gut hört. An manchen Tagen kann sie ganz gut telefonieren. An manchen Tagen nur mit Frauen und nicht mit Männern - weil sie eben tieftonschwerhörig ist. Manchmal gar nicht. Und an manchen Tagen weiss sie es nicht so genau - ist aber mutig und hält sich einfach mal den Hörer ans mutmasslich bessere Ohr, wenn das Telefon klingelt.

Gestern im Geschäft zum Beispiel - das Display zeigte eine unbekannte interne Nummer. Die Stimme am anderen Ende sagte: "Hallo Monika, hier ist Beat." Beat. Hm. Ich verstand also, was die Person am anderen Ende sagte. Guuuut!!! Aber die Stimme klang blechern. Ich erkannte sie nicht. Auch das kommt vor. Ich habe schon die Stimme meines Liebsten am Telefon nicht erkannt. Ich weiss eigentlich, dass solche Dinge passieren. Dennoch: Erste verdutzte Pause an meinem Ende.

Nun gibt es in unserem Betrieb drei oder vier Beate. Mit einem von ihnen hatte Frau Frogg an einem Betriebsfest von vier Jahren noch nach Kräften geflirtet - jetzt ist er aber in einer anderen Filiale tätig und nicht mehr oft im Haus. War das dieser Beat? Vielleicht. Oder doch nicht? Noch eine Pause.

Schliesslich musste ich etwas sagen. Ich sagte zaghaft: "Hallo...?!"

Es war ohnehin nicht einer meiner besten Tage. Ein Problem kommt ja im Leben selten allein. Mir fiel beim besten Willen keine charmante Art ein, ihn zu fragen, welcher Beat er denn nun sei. Dann hätte ich ihm ja erklären müssen, dass... nein, lieber nicht!

Der Beat am anderen Ende kam sofort und sehr sachlich aufs Geschäftliche zu sprechen - kein Wunder bei so einer Begrüssung. Er musste denken, ich kenne ihn nicht mehr. Was in einem gewissen Sinne ja auch stimmte. An einer leicht speziellen Dialektfärbung und dem Kontext seiner Anfrage war ich nach zwei Sätzen sicher: Ja, es war der Beat. Aber da war es schon zu spät zum Flirten.

Schade.

17
Nov
2012

Geheimnisse aus der Luzerner Provinz

Der Kulturflaneur, mein Liebster, ist ja eine Zörischnorre, wie man bei uns im Kanton Luzern sagt. Das heisst: Er stammt aus Zürich und spricht auch Zürcher Dialekt. Allerdings hat er anders als viele Zürcher keinen Zürcher Komplex*. Das heisst: Man kann ihn in die Geheimnisse der Provinz einweihen und er freut sich darüber - während andere Zürcher sofort Angst bekommen, sie seien jetzt auch Provinzler.

Deshalb erzähle ich ihm gerne im breitesten Luzerner Dialekt von meinen Spazier-Routen: "Vo Eibu uf Baubu, uf Ursmu und de uf Hofdere." Achtung: Alles auf der ersten Silbe betonen! Klingt chinesisch, nicht wahr? Ihr werdet diese Orte auch nicht auf Google Maps finden. Wohl aber Inwil (Eibu), Ballwil (Baubu), Urswil (Ursmu) und Hochdorf (Hofdere).



Das alles hat ohnehin mehr Ähnlichkeiten mit Polnisch als mit Chinesisch. Auch im Polnischen gibt es ja Fälle, in denen das "L" durchgestrichen und dann ungefähr als "wu" ausgesprochen wird. So heisst łódź eben "wuodsch" und nicht "lotsch". Und damit wir im Luzernischen genau zu diesem hübschen "wu"-Laut am Schluss des Wortes kommen, bauen wir halt die Wörter ein bisschen um. So wird auch Ruswil zu "Rusmu" - und ein Mann aus Ruswil ist ein "Rusmeler". aber Achtung: Der Nachbarort von Rusmu, Ettiswil heisst nicht etwa Ettismu, sondern "Ettiswiu" mit einem langen "i". - weil das Wort vorher zwei Silben hat. Eben: Zürcher kann man damit endlos verwirren.

Die schönste Geschichte aber will mir der Kulturflaneur immer noch nicht glauben: Weit, weit hinten im Luzerner Hinterland gibt es ein Dorf namens Gettnau - oder "Gättnou", wie es dort heisst. Die Überlieferung will es, dass einmal in den frühen sechziger Jahren so ein ausgeflippter junger Engländer dort war:



Ein gewisser Mick Jagger. Was er so tief im ländlichen Napfgebiet verloren hatte? Niemand weiss es. Aber er habe sich dort zu einem unsterblichen Hit inspirieren lassen, etwas wie: gätt nou satisfaction.


* Der Zürcher Komplex bezeichnet die Angst, in einer Metropole zu leben, die nicht wirklich eine Grossstadt ist - und deshalb eben auch ein Provinzler zu sein. Sie ist unter Zürchern sehr verbreitet.
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