5
Sep
2012

Mein linker Fuss

In den letzten Tagen habe ich oft über den Film Mein linker Fuss nachgedacht. Nicht, dass ich ihn gesehen hätte. Aber ich weiss: Es geht um einen Mann mit einer schweren Körperbehinderung. Doch als er lernte, mit seinem linken Fuss zu schreiben, wurde ihm dieser Körperteil zu einem Instrument der Selbstwerdung und Befreiung.

Bei mir scheint es zurzeit eher umgekehrt: Mein linker Fuss schränkt mich ein. Draussen rufen die Septembertage laut danach, bespaziert zu werden. Aber ich muss dankend ablehnen. Sobald ich meinen linken Fuss belaste, geht es mir wie der kleinen Meerjungfrau in Andersens Märchen: "Jeder Schritt, den sie tat, war, ... als ob sie auf spitze Nadeln und scharfe Messer träte."

Seit ich ihn konsequent schone, ist er wenigstens nicht mehr angeschwollen. Herr T. hat ihn schon ein paarmal untersucht und sagt: "Geh doch endlich zum Arzt!" Herr T. hat wenig Toleranz für Hypochondrie. Wenn er das sagt, muss es ernst sein.

Ich will nicht jammern. Andere haben echte Probleme. Statt dessen denke ich darüber nach, ob auch mein linker Fuss mir in diesem Zustand ein Instrument der Selbstwerdung werden könnte. Ich könnte ja wieder mal die Wohnung ausmisten. Ich könnte das neue Hallenbad in unserer Stadt testen. Aber Wasser - hm, in letzter Zeit fürchte ich immer, im Wasser einen Schwindelanfall zu bekommen. Naja, faule Ausrede. Ich hatte noch nie im Wasser einen Schwindelanfall.

Heute Nachmittag gehe ich jetzt erst mal zum Arzt.

Wenigstens kann ich gerade ein bisschen Musik hören!

31
Aug
2012

Ich war ein Mauerblümchen

Wissen meine jüngeren Leser überhaupt noch, was ein Mauerblümchen ist? Falls nicht: Macht nichts! Der Begriff ist im Abfalleimer der Geschichte bestens aufgehoben. Er bezeichnete Mitte des letzten Jahrhunderts despektierlich ein unscheinbares Mädchen. Präziser noch: ein Mädchen, das nie zum Tanzen aufgefordert wird.

Ich kam in die Pubertät, als anderswo gerade der Punk erfunden wurde. Aber für meine Eltern galt der Paartanz immer noch als erstrebenswerte Art, einen jungen Mann kennen zu lernen. Nur: Dafür durfte man natürlich kein Mauerblümchen sein. Und ich stand schon vor dem ersten Tanzfest unter Mauerblümchen-Verdacht. Wegen meines breiten Hinterteils und meiner Gefrässigkeit beim Lesen.

Eines Samstagabends spielte in unserem Quartier dann die Tanzmusik auf. Argwöhnisch harrte ich der Dinge, die da kommen sollten. Ich sass auch noch neben der Prinzessin - ausgerechnet. Etwa beim zweiten Takt - schwups - entschwebte sie am Arm eines gut aussehenden Fremden. Ich sass da und wartete. Und wartete. Da war erwiesen: Ich war ein Mauerblümchen. Und alle Nachbarn sahen es.

Wie ich dem Mauerblümchen-Terror die Stirn geboten habe, habe ich anderswo beschrieben. Erzählen wollte ich hier eigentlich von diesen winzigen Blümchen.



Ich fand sie neulich mitten in der Stadt. Sie wachsen reichlich an der Quaimauer beim Flohmarkt.


(Quelle: www.familienstadtführer.ch)

Ich kannte es nicht und hatte es nie zuvor beachtet. Aber ich empfand eine instinktive Sympathie für das Pflänzchen, das da unbeirrt im Schatten einer wöchentlichen Grossveranstaltung gedeiht. Recherchen ergaben: Es war ein Mauerblümchen, auch Zimbelkraut genannt. Ich lachte.

Dann las ich mich ein und lernte: Mauerblümchen fallen nicht auf. Aber sie sind schlau. Wenn ihre Fruchtstiele reifen, wenden sie sich vom Licht ab. Ihre Samen fallen dann direkt wieder in die Mauerspalten. Dort treiben sie aus - und so vermehren Mauerblümchen sich bestens.

29
Aug
2012

Der Selbsthass der Journalisten

Manche Sätze lösen ein befreiendes Rauschen im Kopf aus. Sie rufen einen Schwarm von Gedanken herbei, die sich irgendwann ordnen und die Welt stimmig erklären. So ging es mir mit: "Etwas um seiner selbst willen gut zu machen, ist eine Fähigkeit, ... die sich bei den meisten Menschen findet, aber diese Fertigkeit geniesst in modernen Gesellschaften nicht das Ansehen, das sie eigentlich verdiente." Er stammt aus dem Vorwort dieses Buches*:



Er versetzte mich in die Zeit zurück, als ich für eine Zeitung mit einer Auflage von etwa 120000 Stück schrieb. Plötzlich begriff ich, was ich in jenen Tagen manchmal so schmerzhaft fand: Es war der Hass der Journalisten auf ihr eigenes Handwerk. Niemand sprach darüber. Aber ich spürte ihn, und er tat weh. Denn ich war eine Journalistin, die gute Texte schreiben wollte. Texte, die Freude am Lesen bereiten. Texte, die relevante Informationen vermitteln. Doch Texte bestehen leider Gottes aus Buchstaben. Und Buchstaben waren Zeitungsmachern ein Gräuel. Der Journalistenjargon kennt ein hässliches Wort für eine Seite mit zu vielen Buchstaben: Bleiwüste.

Ich hänge gewiss nicht dem Glauben an, nur ein langer Text sei ein guter Text. Aber in jenen Jahren war im Grunde jeder Text zu lang. Es war die grosse Zeit der Gratiszeitungen. Bezahlzeitungen ahmten die am Markt erschreckend erfolgreichen, neuen Produkte nach. Das A und O des guten Zeitungsmachens waren starke Bilder und fetzige Titel. Der Rest? Etwas für Schöngeister und Wirrköpfe.

Wir Schreiberlinge klagten selten. Was hätten wir sagen sollen? Es war ein Privileg, überhaupt seinen Lebensunterhalt mit Schreiben zu verdienen. Journalist/in war ein Traumjob. Gleichzeitig verschwanden die Jobs in der Branche jährlich zu Hunderten. Auch bei uns verschwanden Kollegen. Wir hatten keine Zeit, unseren Selbsthass zu spüren. Wer es trotzdem tat, galt als eitel oder unbelehrbar.

"Du bist bei uns nicht am richtigen Ort", hat einmal ein Chefchen zu mir gesagt. "Du willst im Grunde etwas ganz anderes." Er wusste nicht, was er genau sagen wollte. Und ich habe ihn nicht verstanden. Ich wollte doch nie etwas anderes als schreiben. Gute Texte schreiben.

Ich fühlte mich wie ein Idiot.

Aber seit ich den Satz von Sennett gelesen habe, verstehe ich das alles. Ich will nicht behaupten, dass ich eine brilliante Journalistin hätte werden können. Aber ich fühle mich wenigstens nicht mehr wie ein Idiot.




* Richard Sennett: "Zusammenarbeit", Hanser, Berlin, 2012

28
Aug
2012

Extravagante Baronin

Die Frau auf diesem Bild hatte ein stürmisches, ein tragisches Leben. Mit 29 heiratete bereits zum dritten Mal. Ich begegnete ihr während unserer Sommerferien im Tessin. Die Reise scheint Welten weit weg, aber die Frau ist mir in Erinnerung geblieben.


(Quelle: ticinarte.ch)

Es ist Antoinette de St. Léger, geborene Antonietta Bayer, eine Dame aus dem russischen Hochadel. Ihre Biographie ist aufs Engste mit der Geschichte der Brissago-Inseln verknüpft. Dass sie ein Paradies der Wärme und der kraftvollen Farben sind, das verdanken sie auch ihr.



(Bild oben links von mir, Rest von Herrn T.)

Madame kam 1885 mit ihrem dritten Gatten, Baron Richard Fleming de St. Léger, in die Schweiz. Er hatte etwas, was sie bislang nicht gehabt hatte: Geld. Damit kauften die beiden die kleinen Inseln im Lago Maggiore. Der Spiegel schreibt 1949, die zwei idyllischen Fleckchen Erde seien einst der Liebesgöttin Venus geweiht gewesen. Im armen und stockkatholischen Tessin des 19. Jahrhunderts hatte aber niemand Zeit für Venus. Das Land gehörte einem Kloster. Es gab dort nur Mücken und Trümmerhaufen. Doch das adlige Paar sah Potenzial für die Verwirklichung eines Hobbys von Monsieur: der Botanik. Die Brissago-Inseln sind ein ideales Plätzchen für tropische Gewächse. Es gibt dort fast nie Frost. Fortan liessen sich die beiden Pflanzen aus aller Herren Länder heranschiffen.

Aber Madame interessierte sich nicht nur für Blumen. Sie betrieb auch hoch spekulative Geschäfte - und verlor viel Geld. Das war laut Wikipedia der Grund, weshalb der Baron zwölf Jahre später die Ehe mit ihr kappte und sich nach Neapel absetzte. Blogger Paul Doolan legt nahe, dass auch die unersättliche Begierde der Baronin nach erotischen Abenteuern zur Zerrüttung der Ehe beigetragen habe. Schade, dass er keine Quellen nennt.

Wie dem auch sei: Madame blieb auf den Inseln und wurde zur beliebten Gastgeberin der künstlerischen Avantgarde: Rainer Maria Rilke, Giovanni Segantini und James Joyce waren bei ihr zu Besuch. Letzterer kam 1919 und war laut Blogger Doolan not amused über Madame. Sie habe sieben Ehemänner zu Grabe getragen, ohne ihnen eine Träne nachzuweinen, soll er geschrieben haben.

Wahrscheinlich hätte er das alles anders gesehen, wenn die Baronin noch jünger gewesen wäre. Aber ihre besten Tage waren vorbei. Sie soll noch wunderschöne Puppen fabriziert haben - aber sie war halt schon 53 und fast pleite. Ihre Prozessierfreudigkeit und - wahrscheinlich - der Tod ihres Ex-Mannes 1922 gaben ihr den Rest. 1927 verkaufte sie ihr Inselparadies - was sie nur vorübergehend über die Runden brachte. Sie wurde zum Sozialfall und verbrachte ihre letzten Tage in Ascona und im Altersheim des Bergdorfs Intragna. Die Bauern dort oben dürften nicht auf sie gewartet haben. Aber sie war zählebig: Sie starb erst 1948.

25
Aug
2012

Ein Ende



Diese Ikone der Kleinbürgerlichkeit ziert unser Treppenhaus, seit ich es kenne. Und das sind jetzt doch 11 Jahre. Das Tischchen gehört unserer Nachbarin, Frau Baumgartner.

Gestern Morgen war es nicht an seinem angestammten Platz im zweiten Stock. Sondern unten, bei der Haustür. Jemand hatte es hinuntergetragen, um die Tür damit offenzuhalten. Ich sah es, blieb stehen und verspürte ein stilles Erdbeben. Ich wusste: Frau Baumgartner zieht aus.

Das kam zwar nicht ganz unerwartet. Frau Baumgartner ist gegen 90 und hat lange auf einen Platz im Altersheim gewartet. Sie hatte Schmerzen, das sah man. Aber ich habe sie in letzter Zeit selten gesehen. Ich hatte sie ein paarmal besucht, ihr meine Hilfe angeboten. Sie schien nichts zu wollen. Doch ich konnte ihre Hinfälligkeit im Treppenhaus riechen. Es war ein unheimlicher Geruch, ein dicker Breigeruch. Manchmal stieg er bis herauf in unsere Wohnung. Herr T. ignorierte ihn, aber mich beunruhigte er. Ich wusste: Es ist der Geruch des Verfalls.

Trotz all dieser Vorzeichen: Der Weggang von Frau Baumgartner erschüttert die selische Tektonik unseres Hauses wie ein Erdbeben der Stärke 6. Er hat eine stabile Erdschicht herausgerissen. Noch weiss niemand, was in das entstandene Loch hineinfallen wird.

Nicht, dass Frau Baumgartner eine besonders nette Nachbarin gewesen wäre. Sie gehörte jener Generation von Hausfrauen an, denen Hugo Lötscher in seinem Buch Der Waschküchenschlüssel ein schonungsloses Denkmal gesetzt hat. Ihre Hausgemeinschaft war für diese nicht auf Rosen gebetteten Frauen ein Ort der Engherzigkeit. Eine Engherzigkeit, die sie selber hart hatten erlernen müssen - und die sie unnachgiebig jüngeren Frauen aufzwangen. Erst unsere Frauengeneration hat gelernt, sich dieser Welt zu entziehen. Die Berufstätigkeit hat uns befreit und die Nachbarschaft zur Nebensache gemacht. Unsere Welt ist grösser, und sie hat neue Rangordnungen.

Aber das bedeutet auch, dass wir kaum zu Hause sind.

Frau Baumgartner war klug genug, das zu akzeptieren. Sie liess uns unser Leben und lebte ihres. Aber sie war da.

Wohl deshalb werden wir Frau Baumgartner vermissen: Sie war immer da. Sie war die Seele unseres Hauses. Mitsamt Stoffblumen und Gartenzwergen.
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