14
Jul
2012

Die schwarzen Brüder

Wer ins Tessin - besonders ins Verzascatal - reist, sollte Die Schwarzen Brüder von Kurt Held und Lisa Tetzner lesen. Der Roman ist ein Jugendklassiker. Wir lasen ihn schon in der Primarschule. In der Erinnerung scheint mir, meinem Lehrer sei der Roman der wichtigste Lernstoff überhaupt gewesen. Warum das so war, hatte ich allerdings vergessen. Deshalb besorgte mir das Buch in der Leihbbibliothek, bevor wir ins Tessin reisten. Ich erwischte die von Hannes Binder passend düster illustrierte Ausgabe.



Bei der Lektüre begriff ich die Begeisterung unseres Lehrers schnell: Das Buch hat eine starke Message. Es geht darin um das Schicksal armer Kinder - und zwar armer Schweizer Kinder im 19. Jahrhundert. Die Eltern von Giorgio im Verzascatal sind sogar so elend dran, dass sie etwas für unsere Begriffe Unglaubliches tun: Sie verkaufen ihren Sohn an einen Kinderschlepper. Der bringt Giorgio in die reiche Stadt Mailand, wo dieser harte Kinderarbeit als Kaminfeger verrichtet. Solche Geschichten trugen sich anno dazumal im Tessin offenbar tatsächlich zu, Lisa Tetzner hatte recherchiert. Heutzutage gibts sowas ja nur noch in jenen fernen Ländern, aus denen bei uns die Asylbewerber kommen. Das Buch geht direkt ans Herz, und ich lernte seine Lektionen schnell nochmals:

1) Die meisten Menschen hierzulande werden heute mit einem goldenen Löffel im Mund geboren - aber nicht darum, weil unsere Vorfahren besonders ehrenwerte Menschen waren.
2) Die Tatsache, dass wir Schweizer sind, bedeutet nicht automatisch, dass wir uns in einer schwierigen Lage besonders anständig verhalten würden.
3) Wir haben kein Recht, auf Menschen aus ärmeren Ländern hinunterzublicken, solange unsere eigene Rechtschaffenheit keiner Prüfung von der Art unterzogen worden ist, wie es sie in ärmeren Ländern gibt.

Pikantes Detail: Co-Autor Kurt Held hiess eigentlich Kurt Kläber, war Deutscher und Kommunist und lebte nach 1933 als Flüchtling in der Schweiz - er musste nach dem Reichstagsbrand um Leib und Leben bangen. Weil Asylbewerber in der Schweiz aber Schreibverbot hatten, erschien das Buch unter dem Namen seiner Frau, Lisa Tetzner. Er hatte es gemeinsam mit ihr verfasst.

8
Jul
2012

Hungrig am Swimming Pool

Noch halbwegs satt nahmen wir den kräftezehrenden Aufstieg zu unserer Ferienwohnung in Contra in Angriff. Die Wohnung lag am obersten Ende einer Halde mit lauter leeren Ferienhäuschen. Nirgends eine Futterquelle, nur ein vergessener Schweinekopf am Wegrand, mitten im Ferienparadies.


(Bild vom Kulturflaneur)

Fliegen und Wespen liessen ihn sich schmecken. Wir sahen ihn uns sachlich an, er verdarb uns höchstens den Appetit auf ein Zvieri*, das wir sowieso nicht dabei hatten.

Schweissnass erreichten wir unser Ferienhaus. Es lag am alleräussersten Rand des Tessiner Agglo-Gürtels. Über uns nichts als Kastanienwälder. Unter uns lediglich fünf Postauto-Verbindungen pro Tag ins Tal. Sogar ein Nachtessen im nahen Tenero wäre mit einem einstündigen Heimweg, alles bergauf, verbunden gewesen. Kein Wunder, dass all unsere Nachbarn im Auto andüsten.

Aber das Haus war ein Bijou! Mehr zum ersten Privat-Swimming Pool in meinem Leben und der panoramatauglichen Aussicht beim kulturflaneur.

Der Notvorrat in der Küche bestand immerhin aus einer Packung Fertig-Champignongsauce und einer halben Flasche Ketchup. Nach einem appetitanregenden Bad im Swimming Pool und einiger harter Auspackarbeit gab es für Herrn T. und mich endlich Abendessen: je zwei dünne Scheiben geröstetes Brot mit Champignonsauce. In der Sauce schwammen etwa zwei Scheibchen Champignons pro Person. Und danach einen Müesli-Riegel.

Schon beim Zubettgehen verspürte Frau Frogg wieder ein leises Hungergefühl. Sie bedauerte ebenso leise ihre Abneigung gegen allzu pedantische Ferien-Vorrecherchen. Dann fielen mir opulente Treffen mit alten Freunden ein, bei denen wir köstliche Gerichte verspeist hatten. Vielleicht träumte ich nur - jedenfalls erinnerte ich mich am nächsten Morgen an nichts mehr. Ausser daran, dass in diesen Erinnerungen eine riesige, gläserne - und schlaraffenländisch volle - Auflauf-Form eine wichtige Rolle gespielt hatte.

Zur Frühstückszeit hatten wir richtig Kohldampf. Frau Frogg dachte voller Verständnis an die Bewohner der hintersten Tessiner Täler, die im 19. Jahrhundert bei Ausfall der Maisernte schon mal echten Hunger litten. Wieder gab es zwei dünne Scheiben Brot - diesmal mit Käse. Und einen Müesliriegel. Um 9.30 Uhr fuhr der erste für uns Feriengäste vertretbare Bus nach Locarno. In Orselina stiegen wir aus, stürzten ins nächste Café und bestellten zwei Espressi. Herr T. verspeiste einen ausgewachsenen Apfelstrudel. Ich meinte, satt zu sein. Aber als wir nach einem längeren Spaziergang auf der Piazza Grande von Locarno ankamen, konnte Frau Frogg kaum warten, bis die Glocken 12 Uhr schlugen. Beim ersten Schlag ging es sofort ab ins nächstbeste Restaurant. Ich bestellte Coniglio mit Polenta**.

Was für eine unvergleichliche Wonne, als der erste Bissen Kaninchenschlegel langsam meine Speiseröhre hinunterwanderte!

Bei unseren Einkäufen stellten wir von nun an immer sicher, dass genügend Alternativen zum Müesliriegel hatten.

* Zwischenmahlzeit, die man nachmittags zu sich nimmt
** Kaninchen mit Maisbrei

Hungrig im Tessin

Zum Glück kaufte ich vor unserer Abreise im Bahnhof Luzern noch je ein Sandwich für Herrn T. und mich. Eigentlich schien mir das unnötig. Ich hatte ja noch Müesliriegel dabei. Und Herr T. hatte ein halbes Brot, etwas Käse und zwei Tomaten im Rucksack, die Reste aus der Küche von Frogg Hall. Ausserdem geniesst er bei längeren Zugreisen gerne die Vorzüge des Speisewagens. Und diesmal waren wir auch nicht unterwegs in ein abgelegenes Tessiner Dörfli. Nein: Diesmal sollte die Reise in eine Ferienwohnung im Agglo-Gürtel von Locarno gehen. Dort würde es doch nötigenfalls ein Ristorante, ein Grotto oder eine Osteria geben! Dachten wir und rechercherchierten nicht weiter.

Schon in Göschenen stellte sich heraus, dass wir die Sandwiches brauchen würden. Wir schrieben den Sonntag, 17. Juni. Damals war der Kanton Uri für den Zugverkehr gesperrt, weil bei Gurtnellen ein paar mächtige Felsbrocken auf die Bahnlinie gedonnert waren. So waren wir in Flüelen auf den Bus umgestiegen. Alles bestens organisiert. Doch dann zeigte sich, dass unser Anschlusszug keinen Speisewagen hatte. Deshalb bissen wir schon kurz nach dem Gotthard-Tunnel in Salamibrötchen und Tomaten - es war Mittag. Zum Dessert gabs einen Müesli-Riegel.

So um 15 Uhr stiegen wir in unserer Feriendestination Contra aus dem Postauto. Gut, dass wir einigermassen satt waren. Denn jetzt lernten wir: Wer im Tessin auch nur ein bisschen herumkommen und dazu regelmässige Mahlzeiten zu sich nehmen will, muss automobil sein. Ausser in der Hochsaison. Dann gibt es auch im hinterletzten Kastanienwald noch ein lauschiges Grotto. Aber als wir im Tessin ankamen, war noch nicht Hochsaison. Die Haltestelle Contra Paese liegt zwar direkt neben einer Osteria.


(Quelle: https://https://homepage.swissonline.ch/)

Aber die war geschlossen. Das Restaurant öffnete erst am 29. Juni. Die Strasse menschenleer. Unverzagt stiegen wir hoch zu unserer Ferienwohnung. Wir hatten ja noch ein halbes Brot und etwas Käse. Und gewiss würde in unserer Ferienwohnung ein kleiner Notvorrat auf uns warten.

Sorry, auf den nächsten Gang müsst Ihr noch ein bisschen warten. Seine Kochzeit ist etwas länger als erwartet.

4
Jul
2012

Wenn jemand stirbt

Wenn jemand aus der Familie stirbt, geschehen merkwürdige Dinge. Zuvor hatte man Sorgen, die ein ganzes Zimmer füllten. Nun haben sie in einer Schachtel Platz. Man kann sie verpacken, in einen Schrank stecken und vergessen. Andere Dinge sind wichtiger. Einstweilen.

Mittelgrosse Konfliktherde sehen im Schatten des Todes harmlos aus. Tagelang arbeitet man mit Menschen Hand in Hand, die man zuvor kaum gekannt hat. Nach und nach werden sie einem verwandt. Man telefoniert, geht Pendenzenlisten durch und macht Botengänge. Man ist beschäftigt. Man ist angemessen traurig. Man plaudert zivilisiert und freundlich und ohne Ende. Reden ist Erinnern und Vergessen zugleich. Weinen kann man in einer unbeobachteten Minute. Der Verstorbene soll einen guten Abgang haben. Alles andere ist zweitrangig.

Am Samstagmorgen ist der Tigervater seinen Gebrechen erlegen. Er wäre vorgestern 82 geworden. Erst jetzt weiss ich, welch grossen Vorrat an Liebe er uns hinterlassen hat.

16
Jun
2012

Eine Tür geht auf

Gestern Abend haben meine grossen Ferien begonnen. Und es ist Ferienwetter - richtig sonnig und heiss. Aber ich habe keine Strandlaune. Mir ist, als hätte jemand plötzlich eine Tür in meiner Seele aufgestossen, die ich ein paar Monate lang erfolgreich ignoriert habe: die Tür zum Zimmer der Zukunftsangst. Ich kann nicht widerstehen. Ich muss hineingehen und mich umsehen.

Meine finanzielle Lage ist schon weit weniger komfortabel als noch vor zwei Jahren. Und inzwischen ist sicher, dass es noch schlimmer kommen wird. Vielleicht sogar viel schlimmer. Trifft das Worst Case-Szenario ein, müssen wir unsere Wohnung aufgeben - und die ist für unsere Gegend schon preiswert. Und ich kann nicht viel dagegen tun. Ich meine: Wer will schon einer periodisch tauben Journalistin in den Spätvierzigern einen Job geben? Wenn ich das Zimmer der Zukunftsangst betrete, packt mich eine heisse Hand an der Gurgel und drückt zu. Natürlich: Es ist unwahrscheinlich, dass wir verhungern werden, das räume ich für die nachtschwestern und rosawers dieser Welt ein. Aber die Hand an meiner Gurgel lockert dieses Wissen nur ein bisschen.

Nun ja, wir fahren jetzt doch in die Ferien. Ins Tessin - das belastet meine Ohren weniger als der echte Süden. Es kann sein, dass sich während meiner Abwesenheit mein Schicksal entscheidet. Aber ich kann im Moment nichts tun. Ich werde mich sehr diszipliniert in heiterer Gelassenheit üben.

Sollte sich jemand während meiner Abwesenheit langweilen, empfehle ich, in die stupende Musiksammlung von Alan Lomax hineinzuhören, die ich kürzlich entdeckt habe. Er begebe sich zum Beispiel zu Adam In The Garden

13
Jun
2012

Die Grösse Asiens

Eigentlich könnte ich aufs Reisen gut verzichten. Ich wohne in Luzern, einer Touristenstadt. Wenn ich nachmittags auf dem Schwanenplatz innehalte und um mich blicke, dann sehe ich viel mehr als Luzern. Dann bekomme ich eine Ahnung von der Grösse Asiens. Es ist unvorstellbar, wie viele Inder, Japaner und Chinesen an einem gewöhnlichen Nachmittagen vor den Souvenir- und Uhrenläden auf- und abspazieren. An Sommernachmittagen verliert der Platz seine helvetische Geschäftigkeit. Er hat etwas Helles und Schwebendes wie die grossen Plätze in den Mittelmeerstädten am frühen Abend, wenn die Einwohner auf ihnen müssig gehen. Er scheint viel grösser als er ist. Ich muss mir dann gar nicht vorstellen, ich wäre in Mumbay oder Kalkutta. Ich habe etwas Phänomenales gesehen. Etwas, worüber ich staunen kann. Für dieses Staunen reist man doch. Oder nicht?
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

Juli 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04
Lieber Herr Steppenhund,
Vielen Dank für diesen mitfühlenden Kommentar. Über...
diefrogg - 4. Jan, 15:50
Schlimm und Mitgefühl
Zum Job kann ich nichts sagen. Gibt es überhaupt keine...
steppenhund - 31. Dez, 04:38

Status

Online seit 7587 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 11. Jan, 15:20

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
development