2
Mai
2012

Flucht vor sich selber

Albert Nobbs ist mit Sicherheit der traurigste Film, den ich je gesehen habe. So tief bedrückt wie nach diesem Streifen habe ich das Kino noch nie verlassen. Und dennoch: Wer bereit ist, einen Abend lang zu leiden, um durch die Kunst die menschliche Seele besser zu verstehen, sollte ihn sich ansehen.

Wenn uns die griechischen Philosophen die Jahrhunderte herunter zurufen: Werde der Du bist, so tut Albert Nobbs genau das Gegenteil: Er ist und bleibt viel zu lange, was er nicht ist - und zeigt, wie tragisch das ist.



Denn Albert Nobbs ist eine Frau. Aber das darf niemand wissen, weil Nobbs (Glenn Close) sich eine Existenz als Mann aufgebaut hat: Er kellnert in einem versnobbten Hotel im Dublin des späten 19. Jahrunderts. Schon ein Fleck auf seiner Krawatte könnte diese Existenz zerstören und ihn ins Elend draussen stürzen. Was, wenn erst noch auskäme, dass er eine Frau ist!? So ist er penibel, still und stets bemüht, nicht gesehen zu werden.

Nun kann eine Frau, die sich als Mann ausgibt, durchaus glücklich werden. Das zeigt eine andere Frau im Film, die sich als Mann ganz offensichtlich sehr wohl fühlt. Doch die Lage von Albert ist viel schwieriger. Er hat seine Weiblichkeit nicht nur für eine berufliche Existenz weggeworfen: Vieles an seinem zutiefst verklemmtem Wesen legt nahe, dass er sie einfach nicht mehr ertragen hat. Kein Wunder, erfährt man: Er wurde als Vierzehnjährige von einer ganzen Männerrotte vergewaltigt.

So sitzen wir im Kinostuhl, und Alberts Angst macht uns ganz angespannt. In jeder unendlich langsam gefilmten Einstellung sehen wir diese Angst. Ausser ihr hat er nicht viel. Naja, er hat ein kleines Vermögen in seinem Personalzimmer versteckt. Und er hat - scheinbar - einen Traum. Er will einen kleinen Tabakladen kaufen. Und heiraten. Dabei bekommt er Hustenanfälle vom Rauchen. Und wie er der süssen Helen den Hof zu machen versucht, ist einfach nur qualvoll mitanzusehen.

Er ist besessen von seinem Geld - auch, weil es in seinem Leben nichts anderes gibt.

Natürlich endet das tragisch. Es kann gar nicht anders enden.

Nur erwarten wir als Kinogänger, dass uns der Film wenigstens einen Hoffnungsschimmer auf den Heimweg gibt. Dass er uns die bittere Pille mit einem Spritzer Sinn versüsst. Und auf seine eigene Art tut er das auch. Aber seid gewarnt: Es ist ein sehr kleiner, sehr zweifelhafter Spritzer für eine sehr bittere Pille.

30
Apr
2012

Sturm

Ein Föhnsturm brettert über den Vierwaldstättersee
Im Hafen wirft er Boote auf und ab
Sie quieken wie mechanische Säue

Metall knallt auf Metall
Die Glocken einer manischen Kuhherde

Drüben irrlichtert die Sturmwarnung
Und irgendwo wird geschossen, scheint es

Ein Schauspiel! Ein Hörspiel! Grossartig!

29
Apr
2012

Furz

Zu Unrecht ist Die Asche meiner Mutter von Frank McCourt beinahe vergessen.

In den Neunzigern war die Autobiografie eines irischen Amerikaners ein Megaseller, ein wuchtiges, lyrisches und sehr witziges Buch. Am Mittwoch schaute ich mir die DVD zum ersten Mal an. Eine Szene fand ich ausgesprochen merkwürdig: Held Frank (11) liegt schwer krank im Spital in Limerick. Er bekommt vom Priester die letzte Ölung. "Das heisst, das ich sterben werde", erzählt der Held aus dem Off. "Und es machte mir nichts aus. Aber dann kam Doktor Campbell herein und hielt meine Hand. Da wusste ich, dass es mir bald besser gehen würde."

Hier sieht man im Bild den Arzt auf dem Stuhl herumrücken. Frau Frogg - an jenem Tag merklich schwerhörig - runzelte die Stirn über die lange Pause an dieser Stelle. Endlich kam eine Erklärung: "Denn ein Arzt würde nie in in der Gegenwart eines sterbenden Kindes furzen". Da begriff Frau Frogg und wartete auf den Furz. Der kam aber nicht.

Am Freitag schaute ich mir den Film nochmals an. Nicht, weil er ein Meisterwerk ist. Es regnet darin sogar für meinen Geschmack zu viel. Aber ich hörte plötzlich besser und wollte mir nochmals das wunderbare Englisch der zwei Hauptdarsteller Emily Watson und Robert Carlyle anhören.

Diesmal hörte ich auch den Furz von Doktor Campbell - an der dramaturgisch exakt richtigen Stelle.



Da wusste ich, dass es mir wieder besser geht.

Eigentlich sollte ich das gar nicht erzählen. Erstens schreiben Damen nicht über Fürze, und zweitens kann mein Ohr schon heute wieder absaufen.

Ich tue es trotzdem. Man kann Hörenden gar nicht oft genug erklären, was man im Leben verpasst, wenn man nicht hört. Es ist ist nicht immer etwas Lebenswichtiges. Manchmal ist es nur ein Fürzchen. Aber manchmal ist es genau der Ton, der die Musik macht.

25
Apr
2012

Ich muss mich verhört haben!

"Wird wohl nichts mit skifahren heute!" sagte Herr T. "Skifahren?! Hä?!" sagte Frau Frogg. Wir waren im Tessin, am Spazieren. Weit und breit kein Schnee. Unter uns glänzte bleifarben der Luganersee. Ja, es war kalt. Aber Skifahren? Davon war bislang nie die Rede gewesen. Herr T. brüllte: "Ich sagte Schifffahren! Es wird heute nichts mit Schifffahren auf dem Luganersee! Weil es bald regnen wird!"

Aha. Ich hatte mich verhört. Wieder mal. Ich verhöre mich oft in letzter Zeit. Das gehört zu den - manchmal - amüsanteren Aspekten meiner Schwerhörigkeit. Es muss ja schnell gehen beim Hören. Spricht B zu A, so registriert das Gehirn von A zunächst einen Haufen Laute und reiht sie dann blitzschnell zu einem Satz zusammen. Versteht A nicht genug, fragt er nach. Kann er nicht nachfragen (oder traut er sich nicht), so zieht er Kontextwissen bei - oder er assoziiert möglichst intelligent.

Bei mir gehts immer noch ziemlich schnell. Es muss schnell gehen, vor allem, wenn ich Radio höre oder fernsehe. Sonst kann ich nicht mehr folgen. Aber wegen meiner Schwerhörigkeit muss ich mir Sätze mit einer ziemlich schmalen Datenbasis zusammenreimen - was manchmal leicht surreal herauskommt, aber oft doch eine tiefere Wahrheit enthüllt. So sagte Philipp Müller, der neue Schweizer FDP-Präsident, am Sonntagabend am Fernsehen: "Ich will die FDP spartanischer und mit mehr Emotionen in die Zukunft führen." "Spartanisch", das macht doch Sinn: Die FDP spart schliesslich satanisch bei den Staatsausgaben, besonders bei den sozial benachteiligten Untertanen.

Aber, nein: Er hatte natürlich "spontaner" gesagt. Dafür profitierte Radrennfahrer Geraint Thomas gestern an der Tour de Romande "von trunkenen Bedingungen". War flüssiges Doping im Spiel? Nein, ein Verhörer, es waren "trockene Bedingungen". Natürlich: Auch so ist das kein richtiger deutscher Satz. Bedingungen können gut, schlecht oder schwierig sein. Aber nicht trocken oder nass. Aber so reden die am Schweizer Fernsehen, glaubt mir. Das macht es für mich einfacher. Ich meine: Muss man alles verstehen, wenn die Leute nicht mal richtig Deutsch können?

Auch am deutschen Fernsehen ist es nicht besser: Da führen Krankenhäuser "Fernlungen", nein, natürlich "Verhandlungen" - mit wem? Weiss ich nicht mehr. Aber die Assoziation ist hübsch, nicht?

Nur wie ich aus "Bergungsflügen" in den Radio-Nachrichten neulich "Erdnussflüge" gemacht habe, kann ich mir immer noch nicht erklären.

22
Apr
2012

Überflüssige Sorge

Gestern fuhr ich mit dem Zug nach Zürich, um eine Bekannte zu treffen. Ich war in grosser Sorge, weil Zugslärm mir oft furchtbar wehtut in den Ohren. Meine Ohropax waren griffbereit. Doch meine Sorge erwies sich als vollkommen überflüssig: Im Zug sitzend konnte ich ihn auch in voller Fahrt gar nicht mehr hören - oder nur noch dann ein bisschen, wenn er über eine Weiche fuhr oder sich stark in die Kurve legte. Als ich das merkte, war ich sicher, dass ich einen schlechten Tag hatte.

Vor dem Treffen besuchte ich die englische Buchhandlung an der Bahnhofstrasse. Ein kleines Problem gabs an der Kasse. Ich wusste: Die Buchhändler hier sind absolut zweisprachig. Nun ist es so, dass ich früher ein akzentfreies Estuary English gesprochen habe - und zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Am liebsten verwirrte ich damit Amerikaner bei der Frage über meine Herkunft. Aber gestern verunsicherte es mich schon masslos, nicht zu wissen, in welcher Sprache man mich ansprechen würde.

Der Mann an der Kasse sagte zuerst "Grüezi" und dann noch etwas. Ich verstand nicht. Da hielt er mich für englischsprachig und wollte die Sprache wechseln. Ich musste ihm sagen, dass ich nicht gut höre. Was dann kam, war eine angenehme Überraschung: Der junge Mann hob freundlich eine Tüte hoch als er mich fragte, ob ich eine brauche. Ich sah, was er meinte, ohne ihn verstehen zu müssen. Genau solche Kleinigkeiten meine ich, wenn ich schreibe: Ich will kein Mitleid. Aber bin froh, wenn ich verstanden werde.

Als ich den Buchladen verliess, begann plötzlich ein Tinnitus laut wie eine Kreissäge meinen Kopf zu halbieren. Ich kenne ihn mittlerweile. Er sagt mir, dass ich bald besser hören werde. Und in der Tat verlief das Treffen mit meiner Bekannten ganz angenehm. Auf dem Heimweg hörte ich sogar den Zug wieder. Jedenfalls am Anfang. Dann soff mein Ohr wieder ab.
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Journal einer Kussbereiten

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