18
Apr
2012

Brilliante Behinderte

Wenn Menschen eine Behinderung haben und daneben Herausragendes leisten, dann sind sie bewunderte Stars - die gut aussehenden Rollstuhl-Sportler; die brillianten blinden Pianisten. "Es muss toll sein, so einen Menschen zu kennen", sagt meine Freundin Wanda, ein an sich gesunder, aber gequälter Mensch. "Bestimmt richtet einen das auf."

Ich habe ihr von Zelda erzählt - jener Frau, die ich neulich am Waldrand kennen gelernt habe. Wir haben uns wieder getroffen. Zelda hat einen Sohn allein gross gezogen und absolviert gerade ein Literatur-Studium. Sie ist 40 und geht mühsam an zwei Stöcken. Ja, es ist toll, sie zu kennen. Aber auf eine andere Art als Wanda es sich vorstellt.

Zelda sagt: "Weisst Du, ich bin ausgeglichener als früher. Ich bin einmal sehr verzweifelt gewesen." Sie hebt die Hand und führt den ausgestreckten Zeigefinger bis hinunter zur Tischplatte. "Dann bin ich am Grund der Verzweiflung angekommen. Seither gehe ich einfach weiter. Und es geht." Wenn ich in ihre hellen, unruhigen Augen schaue, dann sehe ich hinein in den Abgrund. Dann weiss ich: Es ist ein Abgrund von einer Tiefe, die ich nicht kenne. Die ich - Irrtum vorbehalten - nie kennen lernen werde. Ich bin zu oberflächlich und für einmal froh darüber.

Aber ich empfinde ein tiefes Gefühl gegenüber Zelda - ein Gefühl der Dankbarkeit und der Zärtlichkeit. Weil sie mich in den Abgrund hat blicken lassen.

14
Apr
2012

Sentimentaler Männerfilm

Ich sass im Kino, sah "Intouchables" und rund um mich lachten die Leute. Ihr wisst schon: Intouchables ist dieser Kinoknüller aus Frankreich, in dem ein steinreicher Tetraplegiker einen jungen Kerl aus der Banlieue zum Betreuer nimmt.



Ich lachte nicht. Ich hatte keine Zeit, den Film komisch zu finden. Denn ich verstand ihn nicht. Warum, rätselte ich, warum wählt ein so stark behinderter Mensch einen Rüpel mit dem Einfühlungsvermögen eines Presslufthammers zum Pfleger?

Ich selber bin ja ab und zu merklich hörbehindert. Dann bin ich gerne von Leuten umgeben, die schnell wenigstens ansatzweise erfassen, was das bedeutet. Zum Beispiel für die Kommunikation. Aber Tetraplegiker Philippe hat offensichtlich andere Bedürfnisse. Er ist eben ein Mann, dachte ich. "Verstehe eine die Männer!" dachte ich. Und dann fiel bei mir der Groschen: Das ist es! Philippe will einen richtigen Mann zum Pfleger! Diese handgestrickten Softie-Memmen, die sich sonst noch für die Stelle beworben haben, machen ihn depressiv. Und so wählt er den Obermacker Driss - einen, der schnelle Autos liebt und das Parkverbot vor dem Haus seines Herrn mit den Fäusten durchsetzt. Und der weiss, was Frauen wollen.

Nun ist Driss zwar sehr maskulin. Aber als Ex-Knacki und ohne Geld ist er eben auch kein wirklich ganzer Kerl. Im Dienste seines neuen Herrn ändert sich das allmählich: Er bekommt zuerst eine luxuriöse Unterkunft und dann eine Einführung in die Welt der Privilegierten - mitsamt Kunstunterricht.

So ist "Intouchables" ein wahrscheinlich witziger und - das ist mir nicht entgangen - leicht sentimentaler Film: ein Film über zwei Männer, die einander helfen, ihre Männlichkeit wiederzuerlangen. Eine These, die hier viel besser als bei mir ausgeführt wird.

Das ist ganz okay. Damit habe ich überhaupt kein Problem.

Mehr Probleme habe ich damit, dass ich im Grunde so wenig über Philippe und seine Behinderung erfahre. Dieser Philippe ist ja so schicksalsergeben, so massvoll traurig und von Driss so leicht zu erheitern. Und überhaupt hätte ich gern gewusst, wie Philippe das Kapital für seinen fürstlichen Lebensstil zusammenbringt. Da lobe ich mir Al Pacino in Scent of a Woman. Auch das ist ein leicht sentimentaler Film über einen Mann mit Behinderung und seinen Begleiter. Auch ein Film über Männer. Aber Pacino ist wenigstens masslos verbittert. Und, glaubt mir: Er weiss, was Frauen wollen!

11
Apr
2012

Glück

Glück ist etwas sehr Relatives, stellte ich auf unserer Tessin-Reise wieder einmal fest. Glück kann auch die Freude darüber sein, dass man aus einer ungemütlichen Lage geradezu unverschämt heil herauskommt.

Zum Beispiel: Am Ostersamstag kamen wir auf einem Spaziergang ins malerische Tessiner Dorf Aranno.

arosio 2012 014

Wie man auf dem Bild sieht, zog düsteres Gewölk herauf. Wir mussten entscheiden: Weitergehen oder auf das Postauto warten? "Auf das Postauto warten", sagte Frau Frogg. Nicht so sehr wegen des Gewölks. Das sah noch nicht sooo bedrohlich aus. Sondern wegen ihres Ohrenleidens. Sie wollte nicht mit einem Gewaltsmarsch einen Hörsturz riskieren. Ein glückhafter Entscheid, wie sich bald zeigen sollte. Wir fanden die - wegen Bauarbeiten verlegte - Postautohaltestelle. Und wir hatten zum erstenmal Schwein: Ein Postauto war in einer Viertelstunde fällig. Das ist nicht selbstverständlich. Manchmal fahren Postautos im Malcantone nur alle zwei Stunden.

Eben hatten wir uns neben dem Fahrplan aufgestellt, als wir erste Blitze sahen. Es tröpfelte. Wir sahen uns nach einem Unterstand um und siehe da: Neben der Haltestelle stand die Villa eines reichen Sacks. Dieser hatte seine Garage - gross genug für zwei Zivilpänzerli* - mit Vordach gebaut. Wir fragten diesmal nicht nach dem Recht von reichen Säcken, Villen im Tessin und zwei Zivilpänzerli zu besitzen. Wir begaben uns unter das Vordach. Denn schon begann es zu giessen. Wie aus Kübeln zu schütten. Zu hageln.

Die Hauptstrasse wurde zum Bach, dann zum Sturzbach. Erst flossen nur ein paar Tropfen in unsere Garagenecke. Dann ein ganzes Rinnsal. Dann standen wir mit den Schuhsohlen in einer schnell anschwellenden Hagelpfütze. Der kulturflaneur fotografierte. Frau Frogg, begeistert und panisch zugleich, begann sich nach Rettungswegen umzusehen. Sie fand die Treppe zur Villa des reichen Sacks.

Da kam das Postauto. Herr T. musste einen orangeweissen Töggel von der Strasse entfernen, damit es bis zu uns vorfahren konnte. Wir bestiegen das Gefährt, dessen Räder von Wasser umtost wurden. Wir hatten nur nasse Füsse. Die anderen Wanderer, die wir unterwegs gesehen hatten, mussten pflotschnass geworden sein.

* zu "Deutsch": Offroader oder Geländewagen

9
Apr
2012

Frieren im Tessin

Der Drang in den Süden zu Ostern muss etwas Genetisches sein. Etwas, was mir meine nomadisierenden Steinzeit-Mammutjäger-Vorfahren ins Blut gelegt haben. Jedenfalls treibt er mich beinahe so stürmisch wie früher ein- oder zweimal der Sexualtrieb, alle inneren Stimmen der Vernunft abzuwürgen und mich ihm blindlings hinzugeben.

Sobald in den Supermärkten die ersten Schoggi-Ostereili auftauchen, verfalle ich der Selbsttäuschung: Dieses Jahr wird alles besser. Diesmal friere ich mir dort unten im Tessin nicht mehr den Allerwertesten ab. Als hätte mir über den Winter jemand ein Öfchen eingebaut. Dass es im Frühling im Tessin furchtbar kalt sein kann, habe ich gut dokumentiert: hier und hier. Aber dann vergesse ich es doch wieder.

Überhaupt: Wer möchte nicht an ein paar Tagen im Jahr zwischen diesen lieblichen Hügeln aufwachen?

arosio 2012 028

Und so machten Herr T. und ich uns am Karfreitag wieder einmal auf nach unserem geliebten Arosio.

Schon als ich die Tür zum Zimmer unserer Traditionsherbege San Michele aufmachte, wusste ich: Ich werde auch dieses Jahr wieder frieren. Die Heizung war wieder einmal nicht eingeschaltet. Das Kippfenster stand wieder einmal offen. Wir brauchten eine Nacht und einen Tag, bis wir unser Zimmer auf Zimmertemperatur geheizt hatten. Und es gibt im San Michele noch andere Kältequellen - zum Beispiel, die WCs und Duschen, die man mit den Zimmernachbarn teilt. Im Sommer, wenn unten im Saal auch noch Rockkonzerte stattfinden, muss das eine fröhliche Sache sein. Das legt jedenfalls dieses Bild auf der Toilettentür im Erdgeschoss nahe:

arosio 2012 035

Aber an Ostern ist es einfach nur fröstelig. Denn immer muss jemand nach verrichtetem Geschäft hinter sich lüften. Oder frische Luft zieht durchs Treppenhaus, wenn man frisch geduscht durch den Korridor huscht - weil jemand unten rauchend an der offenen Tür steht.

Und am Ostersonntag schnaubte auch noch ein bestialischer Nordföhn durchs Tessin. Er trieb Schaumkörnchen auf den marineblauen Luganersee und Schüttelfröste zwischen die Schultern von Frau Frogg. Am Abend machte ich mir aus einer PET-Flasche eine Bettflasche. Aber erst eine heftige Umarmung von Herrn T. und zwei Duvets vertrieben den Schüttelfrost wieder.

Zum Glück ist im San Michele wenigstens die Kalorienzufuhr immer gewährleistet - und erst noch ausgezeichnet. Das Capretto vom Samstag wärmte die ganze Nacht zum Sonntag.

Wir haben für die Ostertage im Tessin auch schon andere Plätzchen gesucht - wegen der Kälte. Aber irgendwann kommen wir doch immer nach San Michele zurück.

Und als ich erfuhr, dass es am Ostersonntag in der Deutschschweiz fünf Zentimeter geschneit hatte, war ich mit Arosio wieder versöhnt.

6
Apr
2012

Hat die Frau eine Seele?

Dieses Buch las ich wegen seines Titels:


(Hier eine Besprechung aus der FAZ).

Das Alleinsein, manchmal auch die Einsamkeit, ist ein riesiges, aber im Grunde nie richtig erforschtes Land auf meinem geistigen Globus. In letzter Zeit vermute ich: Mit zunehmender Schwerhörigkeit und zunehmenden Alter werde ich es kartieren müssen. Also lohnt es sich, darüber zu lesen. Dachte ich. Ich kannte den Autor, Stewart O'Nan, seit der Lektüre seines Romans A Prayer For The Dying als Autor, der den Horror der Einsamkeit sehr eindrücklich heraufzubeschwören weiss.

Und, ja, "Emily, Alone" ist ein Buch über eine alte Frau, die allein lebt. Aber wie so oft fand ich darin nicht das, wonach ich eigentlich gesucht hatte - eine Antwort auf die Frage, wie ein alter Mensch die Katastrophen der Vereinsamung überwindet. Emily ist zwar oft ein wenig einsam. Aber die Katastrophen hat sie längst hinter sich. Der Roman ist vielmehr - und darin ist es unglaublich stark - ein Abgesang auf die Generation unserer Eltern und das perfekte Räderwerk ihres Lebens.

Die Tochter von Emily - sie ist in meinem Alter - scheint ja nie etwas richtig auf die Reihe zu kriegen. Sie kämpft gegen Geldsorgen und den grossen Durst. Emily dagegen ist wohl situiert und wohl organisiert. Ihr Testament hat sie vollständig bis zum letzten Schmuckstück sauber aufgeschrieben und abgelegt. Emily ist ein Mensch, der ganz im Alltag aufzugehen scheint. Sie macht den Haushalt. Sie führt ihren Hund spazieren. Sie geht mit ihrer Schwägerin Arlene essen - die beiden Frauen pflegen weniger eine Freundschaft als eine Zweckgemeinschaft. Man braucht einander im Alter. Dass Emily einmal eine Freundin sehr geliebt hat, wird - sehr diskrekt - angedeutet. Emily arbeitet ein bisschen im Garten. Sie hört abends Musik. Sie lässt sich nie gehen - auch nicht innerlich. Sie scheint keine Leidenschaften zu kennen. Es ist genau dieser merkwürdigen Gegensatz, der mich an der Generation meiner Eltern erstaunt und gelegentlich befremdet.

Ich möchte so tüchtig sein wie sie. So zu jeder Tageszeit und durch und durch präsentabel. Mit so viel Pragmatismus ausgestattet. Aber nicht so oberflächlich.

Bei so viel properer Alltäglichkeit hat das Buch seine unvermeidlichen Längen im ersten Teil. Aber dann gerät Emily doch aus dem Gleichgewicht - es ist prekärer als man zuerst angenommen hat. Als Hund Rufus erkrankt, ahnt man die destabilisierende Nähe des Todes. Wird der Hund überleben? Wird Emily - so zählebig sie ist - doch sterben? Wir lesen atemlos. Und ganz allmählich stellt sich etwas Unerwartetes heraus: Emily hat doch eine Seele.
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