3
Apr
2012

Hier würde ich liegen

Wenn ich mir frei wünschen könnte, wo dereinst meine Überreste ruhen sollen, dann würde ich dieses Plätzchen wählen:

Kirchbühl

Das ist die Kirche St. Martin, etwa 20 Gehminuten nördlich von Sempach. Sie hatte ihre grosse Zeit im 13. Jahrhundert. Schon 100 Jahre später wurde sie von der Welt vergessen - nur alle 200 Jahre erinnerte man sich wieder an sie und baute ein bisschen an ihr herum. Heute ist die Kirche ein stiller Ort, kein Verkehr, rundum schmucke Bauernhäuser, die Gärten üppig und wie von Zauberhand gepflegt. Wer die Kirche betritt, geht mit offenem Mund auf Zeitreise: 700 Jahre alte Gestalten blicken von den Wänden herunter. Natürlich sind sie verblasst und nur noch bruchstückweise zu sehen - auch die Bilder jener drei stattlichen Männer, die - voll im Saft - draussen im Kirchhof drei Toten begegneten - sich selbst.

Hier spürt man den Hauch der Ewigkeit und bekommt Sehnsucht nach ihr.

Als ich auf meiner Wanderung nach Norden wieder einmal nach St. Martin kam, merkte ich allerdings, dass der Ort so weltvergessen denn doch nicht ist. Nur wenige Meter von der Kirche hat der organisierte Tourismus Marken gesetzt: Hier kreuzen sich drei nationale Velorouten, darunter die Herzroute. An manchen Tagen muss es hier von gut gelaunten Radlern in schwarzen Höschen wimmeln.

Und überhaupt: Die hier begrabenen Sempacher würden mich wohl als fremden Fötzel* betrachten und gar nicht wollen, dachte ich. Ich werde meine Überreste dereinst dem städtischen Krematorium übergeben - und meine Asche wird unter Städtern ruhen.

Ich kehrte zu den Lebenden zurück wandte meinen Schritt weiter nach Norden und erreichte wenig später Eich. Dort endete meine - diesmal kurze - Wanderung.

* Ein despektierliche schweizerdeutscher Ausdruck für Fremde. Wir Städter glauben, dass er vor allem in der Innerschweiz auf dem Land gebräuchlich ist.

31
Mrz
2012

Gutes Essen, grosse Geschichte

Für den Weg vom Bahnhof Sempach-Neuenkirch ins mittelalterliche Städtchen wählte ich eine hübsche, aber ineffiziente Route: Ich ging dem Bahndamm und dann dem Seeufer entlang. Das ist gleichzeitig der offizielle Wanderweg. Reine Marschzeit: 55 Minuten. Die Handelsreisenden des Mittelalters hätten über einen solchen Spaziergang wohl den Kopf geschüttelt. Sie waren beladen mit Wein und Seide aus dem Süden oder Geschirr und Wolle aus dem Norden. Sie hätten einen direkteren Weg gewählt.

Für mich hatte diese Wahl den Vorteil, dass ich genau zur Mittagszeit das mittelalterliche Städtchen betrat. Er ist voller hübscher Gaststätten. Besucher mit mittlerem Budget sollten die Krone oder den Ochsen aufsuchen. Beide sind nicht schwierig zu finden: Die "Krone" liegt nahe beim Südtor. Der "Ochsen" ist auf diesem Bild vom Nordtor links zu sehen.

Städtchen

Beide liegen an der historischen Gotthard-Strasse, die im Mittelalter mitten durch die Stadt führte.

In beiden sollte man, nein, nicht Schwein, sondern Fisch essen. Die "Krone" hat mehr Cachet als der "Ochsen". Sie ist aber dienstags geschlossen. So verschlug es mich wieder mal in den "Ochsen". Der Balchen Zuger Art schmeckt dort ganz vorzüglich.

Danach konnte ich mich gestärkt der grossen Geschichte von Sempach stellen - wobei ich die Schlacht von Sempach beiseite liess. Wer mehr darüber wissen möchte, liest die wunderbar unheroische Schilderung von Robert Walser.

Statt dessen machte ich einen kleinen Stadtrundgang. Im Stadtkern selber scheint die Zeit irgendwann im 19. Jahrhundert stehengeblieben zu sein - während rundum fast schon erschreckend viel gebaut wird. Man munkelt, einige Besitzer von Sempacher Stadthäusern täten sich schwer mit der Kantonalen Denkmalpflege - die hier bei jedem Umbau ein Wörtchen mitredet. Ein Bauwerk geradewegs aus der Romantik scheint der Hexenturm zu sein.

Tower in Sempach

Er war im Mittelalter Teil der Stadtbefestigung und gehört heute der örtlichen Theatergesellschaft.

Dann wanderte ich weiter Richtung Norden. Nach 20 Minuten erreichte ich eines meiner Lieblingsplätzchen überhaupt: St. Martin auf Kirchbühl. Mehr darüber in meinem nächsten Beitrag.

27
Mrz
2012

Im Schweineland

Luzern - mein Zuhause - ist ein Schweinekanton. Und das meine ich jetzt nicht als Beschimpfung. Es ist Tatsache: In keinem anderen Schweizer Kanton gibt es so viele rosarote Paarhufer: 423 185 Stück lebten 2010 in Luzerner Ställen*. Zum Vergleich: Im Kanton Bern (Rang zwei) gab es nur deren 281 005 - bei mehr als doppelt so viel landwirtschaftlicher Nutzfläche.

An Schweine dachte ich heute Morgen beim Anblick dieses wunderschönen Sees.

Sempachersee

Es ist der Sempachersee im Kanton Luzern. Man sieht es ihm nicht an. Aber Schweine und anderes Viehzeugs hätten das blaue Nass in den 70-er Jahren schier zur grünlichen Kloake gemacht. Zu viel Gülle** floss aus den umliegenden Landwirtschaftsbetrieben in den See. Es gab eine Algenpest. Fische starben zu Tausenden. Nur die Technik konnte den See retten: Seit 1984 wird er ab 80 Metern Tiefe künstlich beatmet (nachzulesen auf Wikipedia).

Nun wollt Ihr wohl noch wissen, was ich am Sempachersee zu suchen hatte. Also, vielleicht erinnern sich einige: An einem Samstag im Dezember 2011 brach ich von Luzern nach Norden auf, um eines Tages zu Fuss Basel zu erreichen. Hier und hierhabe ich über die erste Etappe berichtet. Sie endete damals am Bahnhof Sempach-Neuenkirch. Seither scheint in der Frogg'schen Zeitrechnung eine Epoche vergangen zu sein. Eine Epoche, in der ich meine Gehör verlor und noch nicht weiss, ob ich es ganz wiedererlangen werde. Aber es wird Frühling. Ich wollte trotzdem wieder spazieren gehen. Also ging ich vom Bahnhof Sempach-Neuenkirch aus weiter Richtung Norden.

Zuerst durchquert man dabei einen in den letzten zehn Jahren beängstigend gewachsenen Agglo-Speckgürtel. Aber dazwischen liegen noch ein paar Wiesen. Sie rochen frisch gegüllt.

Nun hätte ich Euch gern noch ein paar Bilder von Schweineställen gezeigt. Natürlich sah ich welche. Aber da waren auch Bauern mit misstrauischen Gesichtern. Ich getraute mich nicht zu fotografieren.

Dafür erzähle ich demnächst mehr vom Städtchen Sempach.

* Quelle: Bundesamt für Statistik
** Jauche

23
Mrz
2012

Behindert und inkompetent?

Für Menschen mit Behinderung gilt in der Schweiz das Motto "Eingliederung statt Rente". So lautet jedenfalls der Leitsatz unserer Invalidenversicherung (IV) - bei einer Volksabstimmung 2007 gutgeheissen, also beim Volk breit akzeptiert. Natürlich heisst das in allererster Linie: "Behinderte sollen arbeiten und nicht dem Staat auf der Tasche liegen." Es könnte auch heissen: "Wir begegnen Menschen mit Behinderung als voll akzeptierten Mitgliedern unserer Gesellschaft."

Heisst es aber nicht. Das zeigt das Beispiel des Appenzeller Schwimmbads Unterrechstein. Dort verwehrt man einer Gruppe von Kindern mit Behinderung den Zutritt. Begründung: Sie stören die anderen Gäste. Wenn die Eingliederungs-Bereitschaft schon in der Freizeit so gering ist - ja, dann kann man sich vorstellen, wie es damit in der Arbeitswelt aussieht.

Als Neo-Schwerhörige mache ich diesbezüglich gerade erste Erfahrungen. Neulich erzählte ich einem bibelfesten und erfolgreichen Kleinunternehmer-Freund, wie ich im Büro eines Tages - typisch für meine Krankheit, aber doch sehr plötzlich - sehr schlecht hörte. Selber ziemlich verdattert sagte ich zu einem Kunden am Telefon: "Sie müssen deutlich sprechen, ich höre nicht gut."

Mein bibelfester Freund schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief: "Das darfst Du doch nie einem Kunden sagen! Nie!"

Denn: Wer nicht gut hört, ist behindert und ergo inkompetent. Glauben seiner Meinung nach die Kunden.

Falls mein Chef hier mitliest, versichere ich: Ich lernte schnell. Unterdessen weiss sogar ich, dass man einem Kunden nie die Wahrheit zumuten darf. Aber es macht mich wütend, denn es führt zu einer zynischen Doppelmoral: Oh ja, wir sind ein Land, das seine Behinderten in die Arbeitswelt eingliedert! Aber sie sollen dabei bitte diskret sein, und sehen wollen wir sie auch nicht.

Ich frage mich, wie die IV so ihre hehren Eingliederungsziele erreichen will.

18
Mrz
2012

Spaziergang mit Herrn T.

Meine neue Devise lautet: Ich werde zwar schwerhörig, aber ich bin noch am Leben. Also versuche ich zurechtzukommen. So begab ich mich gestern mit Herrn T. auf eine kleine Wanderung. Sie führte uns von Rotkreuz im Kanton Zug aufs Michaelskreuz.


(Quelle: www.vrpx.ch)

Näheres über unsere Erlebnisse wohl bald bei Herrn T. alias kulturflaneur. Ich hatte einen sehr schwerhörigen Tag. Ich übte das Zurechtkommen.

Ich lernte: Gelegentlich blickt Herr T. begeistert über Land, bewegt die Lippen und dabei kommt etwas wie "--baub--!" heraus. Das heisst : "Unglaublich!" Meistens folgen dann mehr Lippenbewegen - Herr T. will mich auf etwas aufmerksam machen. Oft bekam ich den halben Satz mit. Nachfragen musste ich:

- wenn Herr T. beim Reden sein Gesicht abwandte (weil er mir etwas irgendwo da drüben zeigen wollte)
- wenn unter unseren Füssen Kies knirschte
- wenn ein motorisiertes Fahr- oder Flugzeug vorbeisirrte
- wenn Vogelgezwitscher Herrn T. übertönte

Also meistens.

Noch bevor wir bei einem Hof namens Sonderi die Grenze zum Kanton Luzern überschritten, bat ich Herrn T. leicht gereizt um einen Grundsatzentscheid: "Was willst Du? Soll ich jeweils zwei- oder dreimal nachfragen? Oder willst Du, dass ich einfach so tue, als würde ich zuhören?"

Herr T. entschied auf Nachfragen - was aber die Arbeit ganz einseitig auf meine Schultern gelegt hätte. Deshalb bat ich ihn um Mithilfe: deutlich und in meine Richtung sprechen, bitte. Herr T. nickte. Soweit alles paletti. Dann waren wir auf dem Berg und traten ins Kirchlein. Dort war ein zweites Paar. Herr T. tat, was man in solchen Fällen in Kirchen tut: Er flüsterte.

Frau Frogg raufte sich die Haare. Sie hörte gar nichts.

Als äusserst nützlich erwies sich die Gesellschaft von Herrn T. dann beim Mittagessen im Restaurant Frohsinn in Udligenswil. Ich hatte keine Lust, der Kellnerin meine Schwerhörigkeit zu bekennen. Deshalb trug ich ausnahmsweise Herrn T. die Arbeit des Bestellens auf - wir nahmen sowieso das legendäre halbe Güggeli für zwei. Ich konnte mich zurücklehnen. Nur beim Salat gabs Probleme. Da bewegte die Kellnerin lange die Lippen. "Bitte?" fragte ich. Sie bewegte wieder die Lippen, drehte den Kopf aber zu Herrn T. "----, ----, Nüssli*", hörte ich nur. Ich schloss daraus, dass ich zwischen mehreren Optionen wählen konnte und sagte: "Nüssli, bitte."

Später klärte mich Herr T. über die Alternativen auf: grüner Salat oder bunter Salat oder Nüssli. Eigentlich hätte ich gern einen grünen Salat gehabt.


* Zu deutsch Feldsalat oder Rapunzel, auf Österreichisch Vogerlsalat
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