15
Mrz
2012

Ich höre

Ich höre unten im Tal den Zug vorbeiklappern
den Widerhall meiner Schritte auf den Fliesen
Ich höre wie das Wasser in der Heizung singt

Ich höre!!!

Die Welt ist voller Geräusche
und hell wie ein Sommertag

Einstweilen

14
Mrz
2012

Von den Lippen gelesen

Neulich sah ich mir im Kino doch noch "The Artist" an. Nicht etwa, weil der Film so viele Oscars gewonnen hat. Sondern weil mein Instinkt mir sagte, dass ein Stummfilm ein geradezu ideales Werk für eine Neo-Schwerhörige wie mich sei.

Ich täuschte mich nicht. Im Gegenteil. Ich verliess das Kino sogar voller Stolz - weil es mir blutiger Anfängerin gelungen war, den Stummfilmhelden ein paar Takte von den Lippen zu lesen. Das ist zwar nicht besonders schwierig. Denn wenn Stummfilmhelden sprechen, dann artikulieren sie so überdeutlich, dass man schon sehr kurzsichtig sein muss, um es nicht zu können. Ich war aber noch besser: Mich beschlich beim Lippenlesen schon in den ersten Szenen der Verdacht, dass der Filmheld George Valentin (Jean Dujardin) einen ziemlich dicken französischen Akzent haben muss - was sich am Schluss als korrekt herausstellte.

Überhaupt, der Filmheld:



Er ist nicht nur ein ansehnlicher Kerl. Er legt auch eine der eindringlichsten Szenen über die Macht des Gehörs hin, die ich je gesehen habe - einfach mit umgekehrten Vorzeichen. Als Stummfilmstar interessiert ihn ja Sound herzlich wenig - bis plötzlich der Tonfilm aufkommt und seiner Karriere ein Ende zu setzen droht. Eines Tages sitzt er in seiner Garderobe und stellt ein Whiskyglas auf den Schminktisch. Und man hört - mitten im Stummfilm - den Ton, den es dabei von sich gibt. Auch Valentin hört ihn. Wird aufmerksam, macht weitere Geräusche und horcht. Auf seinem Gesicht breitet sich ein Ausdruck grösster existenzieller Sorge aus. Freunde, genau diesen Ausdruck habe ich im Gesicht, wenn ich Dinge jeweils plötzlich nicht mehr höre.

Valentin tritt dann vor die Tür und sieht drei junge Frauen vorbeigehen. Und hört sie schallend lachen. Und steht daneben wie ein begossener Pudel. Eine bessere Darstellung der Isolation, in die einen Schwerhörigkeit treiben kann, habe ich noch nie gesehen.

9
Mrz
2012

Ich lächelte


(Quelle: www.fechenbach.de)

Man ist immer froh, in turbulenten Zeiten auf Altbewährtes zurückgreifen zu können.

Edit: Die Nostalgie-Postkarten von Fechenbach begleiten mich seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Einige davon habe ich damals gekauft und nie verschickt, sondern zu meiner Erbauung behalten. Sie entlocken mir in bestimmten Lebenslagen heute noch ein Lachen - oder wenigstens ein Lächeln.

6
Mrz
2012

Am Ende

"Wir können nichts mehr für Sie tun", sagt die junge Ärztin in der Klinik. "Wir haben alles versucht. Es gibt nichts mehr."

Sie sitzt da mit dem neuen Hörtest in der Hand. Die haben mich hier tagelang mit Cortison traktiert. Eigentlich müsste ich rechts wieder gut hören. Aber in meinem rechten Ohren spielt wieder mal der wahnsinnige Akkordeonist auf. Laut.

"Und die Prognose?" sage ich.

"Wir wissen es nicht", sagt sie. "Es ist gut möglich, dass Sie auch auf dem rechten Ohr nicht ganz ertauben - sondern dass sich Ihr Gehör stabilisieren wird. Wahrscheinlich auf einer Frequenz, die sich mit Hörgeräten einigermassen korrigieren lässt. So wie beim linken Ohr. Die genetische Disposition ist ja dieselbe. Aber wie lange das dauern wird... keine Ahnung." Im Grunde weiss ich das bereits - so ungefähr. Aber es ist das erste Mal, dass eine Ärztin Klartext spricht.

Als ich später draussen vor der Klinik stehe, fühle ich mich frei. Unglaublich frei.

"Ich kann jetzt wieder leben, ohne ständig mein gutes Ohr zu schonen", denke ich. Ich weiss, dass das ein idiotischer Gedanke ist. Ich weiss ja gar nicht, wie man ohne Gehör lebt. Und ich werde Tage ohne Gehör haben, fürchte ich. Viele. Ich kenne die ganze Geschichte ja vom linken Ohr.

Aber andere können es. Ich werde es auch können.

3
Mrz
2012

Zerbrochener Vogel

Ich sass am Waldrand auf einer Bank. Die Sonne schien. Es ging mir gut, ich konnte sogar Musik hören. Das erste Mal seit einem Monat.

Da schleppte sich eine Frau mit Krücken heran. Sie hievte sich neben mich auf die Bank. Sofort wusste ich: Ich muss mit dieser Frau sprechen. Vielleicht weiss sie Antwort auf eine meiner drängenden 2387 Fragen über das Leben mit einer Behinderung.

Nun braucht es ziemlich viel Sozialkompetenz, um in der Schweiz auf einer Bank am Waldrand mit einer Unbekannten ins Gespräch zu kommen. Aber die Not schenkte mir die richtigen Worte. "Haben Sie das schon lange?" fragte ich und wies auf die Krücken. "Ziemlich", sagte sie. Sie habe vor 14 Jahren einen Unfall gehabt und leide seither an einer inkompletten Paraplegie. "Ich war 29", sagte sie. "Ich war in einem Alter, in dem meine Kollegen anfingen, so richtig abzuheben. Und ich lag da wie ein zerbrochener Vogel. Oh ja, es war ein schwerer Einschnitt." Sie beginnt leise zu weinen.

"Das tut mir sehr leid", sagte ich.

Dann redeten wir lange und gingen zusammen langsam durch den Wald. Es zeigte sich schnell, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. Wir lachten. Ich hoffe, dass wir uns wieder sehen werden.

Ich ging nach Hause und war glücklich. In der Nacht hatte ich einen weiteren Hörsturz.
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