1
Okt
2010

Todesangst

Gestern haben wir uns hier mit der Frage beschäftigt: "Wie würde ich leben, wenn ich wüsste, dass ich nur noch drei Monate zu leben habe." Mittlerweile habe ich gemerkt: Wir sitzen beim Nachdenken über diese Frage einem Irrtum auf. Wir glauben, wir wüssten nach so einer Nachricht nullkommaplötzlich, wie wir die Prioritäten setzen müssen. Wir würden über Nacht zu besseren Menschen. So ein Blödsinn!

Stellt Euch vor, Ihr würdet beim Arzt sitzen. Der Arzt würde sein Gesicht so zurechtrücken, dass er die schlimme Nachricht mit genau dem angemessenen Ernst bringen kann. Er würde sagen: "Nun, Frau X, Sie sie haben eine schwere Krankheit. Leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie in drei Monaten sterben werden." Würdet Ihr aus der Praxis rennen und jubeln: "Juhuu! Endlich richtig leben!"?! Mitnichten! Jeder wäre ob einer solchen Nachricht schockiert, entsetzt, verstört. Jeden würde die Todesangst packen. Vielleicht käme sie als Angst vor den Schmerzen daher. Vielleicht als Furcht vor dem ungewissen Danach. Vielleicht auch als ätzende Beschämung darüber, dass man als Erster seines Matura-Jahrgangs ins Grass beissen muss. Das findet Ihr jetzt vielleicht blöd. Aber solche Gefühle sind in ihrer Wucht nicht zu unterschätzen.

Ich weiss ganz sicher: Die Furcht vor dem Tod lernen wir alle erst kennen, wenn er uns ins Gesicht grinst. Wer etwas anderes glaubt, glaubt - pardon - esoterischen Schwachsinn.

Ich weiss es, weil ich vor bald einem Jahr eines Morgens erwachte und meinen Liebsten nicht mehr verstand. Er redete nicht, er quakte dumpf. Mein Gehör hatte mich über Nacht so gut wie verlassen. Vorher hatte ich mit der Angst vor dem Ertauben nur kokettiert. In jenem Moment lernte ich sie richtig kennen. Sie brauchte alles von mir. Ich konnte nicht mehr lesen, nicht einmal mehr fernsehen. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Ängste so viel Kraft brauchen können. Und wenn die Angst vor dem Ertauben schon so schlimm ist: Wie schlimm ist dann die Angst vor dem Tod?

Ich brauchte ziemlich genau anderthalb Monate, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Danach folgte mindestens ein halbes Jahr der Ungewissheiten. Ich brauchte viel Zeit, um die Prioritäten neu zu setzen. Und ich wurde kein besserer Mensch, im Gegenteil. Ich lernte, wie wichtig es mir ist, genügend Geld zu haben. Ich bin heute weniger kreativ und konsumiere mehr. Ich wurde dämlich, aber froh.

Und morgen oder übermorgen erzähle ich Euch dann, was ich wirklich tun würde, wenn ich nur noch drei Monate zu leben hätte.

30
Sep
2010

Noch drei Monate zu leben

Robi vom Dorf fragt mich: "Sag, was würdest Du tun, wenn Du nur noch drei Monate zu leben hättest?" Wir sitzen beim Feierabend-Apero in der Beiz. Es ist nicht die richtige Zeit und nicht der richtige Ort für Tiefsinn. Aber Robi muss man ernst nehmen, wenn er sowas fragt. Robi ist ein bisschen speziell. Er steht früh morgens auf, um die Bibel zu lesen. Und tagsüber ist er ein leidenschaftlicher Schreiber und scharfsinniger Satiriker.

Ich nehme einen Schluck von meinem gespritzten Weissen. "Da erwischst Du mich jetzt wirklich auf dem falschen Fuss", sage ich, "Ich bereite mich nämlich auf etwas vor, was ich mir ein bisschen wie das Gegenteil vorstelle. Ich meine: Ich habe einen tiefen Blutdruck und wahrscheinlich ein gutes Herz. Ich kann 90 werden." An dieser Stelle klopfe ich dreimal an meinen Holzstuhl. "Aber es ist möglich, dass ich in zehn Jahren nichts mehr höre und mich dann noch 35 Jahre lang taub durchs Leben schlage."

Da nimmt Robi einen Schluck von seinem Bier und sagt eine Weile gar nichts. Dann erzählt er, was er tun würde.

Dazu passt Sound von einem, den man so etwas nicht zu fragen gebraucht hätte.



Eddie Cochran schrieb schnell ein paar Hits, bevor er mit 21 Jahren bei einem Autounfall zu Tode kam. Das war 1960. Hier der Text des Songs. Köstlich in Stil der späten fünfziger Jahre.

28
Sep
2010

Gefährliche Musik

YouTube und iTunes haben uns ein Universum aufgemacht! Wir älteren Semester hören heute Musik frei Haus, von der wir nie zu träumen gewagt hätten, dass wir sie einmal schnell an einem Abend herunterladen würden. Klar, diese Segnungen der Technik bringen Leute um Geld, die es eigentlich verdient hätten. Aber die grossen Musik- und Technologiekonzerne tun mir mässig leid. Ich meine: Ich habe nachgezählt. Ich habe in meinem 45-jährigen Leben ungefähr vier Generationen Musiktechnologie erlebt. Wer à jour bleiben wollte, musste im Schnitt alle zehn Jahre seine Infrastruktur auswechseln: Plattenspieler Mono, Plattenspieler Stereo, CD-Gerät, MP3-Player.

Und viel Sound ging verloren - weil der Plattenspieler kaputt ging. Weil es die alte Scheibe nicht auf CD gab. Oder weil kein Geld da war, neue Geräte zu kaufen.

Spült das Leben einem diese alten Konserven irgendwann plötzlich wieder ans Ohr, passieren zuweilen beängstigende Dinge. Es ist, als wollten sich die vergessenen Tonträger rächen.

Ich zum Beispiel hatte neulich ein seltsames Zusammentreffen mit Bruce Springsteen.

Ich muss dazu anmerken, dass ich Bruce Springsteen schon früher ein bisschen misstraut habe. Es gab mir bei ihm immer ein bisschen zu viele Vietnam-Veteranen, zu viele Schiessereien, zu viele nassgeschwitzte Bettlaken. Ich finde, der Mann nimmt sich einfach zu ernst. Kein Wunder, dass er sich für Parodien geradezu aufdrängt.



Die Jahre haben diesen Eindruck noch verstärkt. Dennoch bin ich kürzlich bei meinen Streifzügen auf YouTube bei ihm hängen geblieben. Und ich erinnerte mich: Ich hatte doch Ende der Achtziger mal eine Kassette mit einer halben Platte von Bruce Springsteen! Ältere Leute wissen noch, was Kassetten sind. Die Kassette hielt sich als Tonträger lange, weil sie billig und praktisch war. Man konnte darauf Platten von Freunden aufnehmen und sie dann im Zug auf dem Walkman hören.
Das tat ich mit meiner Springsteen-Kassette Ende der achtziger Jahre. Sicher zwei- bis dreihundertmal. Wenn ich am Wochenende von der Uni zu meinem damaligen Liebsten fuhr. Es waren unstete Jahre. Ich hatte wenig Zeit für Musik.

Spätestens 1993 verschwand die Springsteen-Kassette aber aus meinem Leben. Ich fuhr weniger Zug und konnte mir endlich ein CD-Gerät leisten.

Am Samstag wollte ich sie mir wieder mal anhören. Ich fand sie sogar. Und meine Stereo-Anlage aus den Neunzigern verfügt erst noch über ein Kassettendeck. Also: Nichts wie Kassette einwerfen und Knopf drücken. Doch jetzt zeigte sich: Das Kassettendeck hat inzwischen das Zeitliche gesegnet. Wahrscheinlich aus Frust. Weil es seit fünfzehn Jahren niemand mehr gebraucht hat.

Aber ich hatte ja noch mein Diktiergerät, auf dem Kassetten laufen. Ich habe es als Journalistin bis vor einem Jahr gelegentlich gebraucht - derweil meine Kollegen längst trendigere Dinger hatten. Ich warf die Kassette ein und holte die Kopfhörer meines MP3-Players. Das Diktiergerät lief nur noch auf einem Kopfhörer, aber das machte nichts: Ich höre ja links sowieso nicht besonders gut.

So steckte ich mir das Diktiergerät Bruce Springsteen in die Küchenschürze und machte mich an der Abwaschmaschine zu schaffen. Es hatte keine Rausch-Unterdrückung. Naja, für einmal geht das.

Es handelt sich um eine Platte mit Live-Aufnahmen. "Down to the River" hat ein endloses Intro. Ein Intro mit einem schleifenden, todtraurigen Synthesizer im Hintergrund, und Bruce erzählt ein bisschen aus seiner Jugend: Wie er ständig mit seinem Vater herumstritt. Wegen seiner langen Haare. Wie er ein Aufgebot für den Krieg bekam. Wie er hinging und...

Ungefähr an diesem Punkt stand ich da mit meinem Diktiergerät in der Küchenschürze und brach in Tränen aus.

Ich hatte keine Ahnung, weshalb.

26
Sep
2010

Tabletten - und wie sie wirken

Herr Steppenhund hat neulich in einer Diskussion über Psychopharmaka hier erklärt, warum er keine nimmt: "Es ist vermutlich eher die Angst, dass ich nicht nachvollziehen kann, was psychogene Pharmaka mit mir anstellen. Ich verstehe es nicht und daher macht es mir Angst." Bedenkenswertes Argument.

Ich konsumiere mittlerweile seit bald einem Jahr Remeron und eine nur noch sehr geringe Dosis Temesta. Hat es etwas mit mir angestellt? Bin ich noch ich selber?

Ja. Ich bin noch ich selber.

Und: Ich schlafe. Und ich höre. Ich vermute, dass beides einen komplizierten und medizinisch nicht erklärbaren Zusammenhang hat. Als ich letzten Herbst nach dem dritten Hörsturz mit den Nerven am Ende war, hörte ich auch zunehmend schlechter. Als ich wieder schlief, ging es mir besser. Nicht sofort. Aber mit an den meisten Tagen unverkennbarer Tendenz.

Gut, einen Nachteil hat das Zeug: Ich habe wieder Appetit und seit meiner Krankheit etwa zwei Kilo zugelegt. Aber vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass ich wegen gelegentlicher Schwindelanfälle nicht mehr jogge. Oder damit, dass ich Medikamente habe, die wahrscheinlich den schädlichen Einfluss von Schokolade und salzigen Speisen auf mein Gehör und meinen Gleichgewichtssinn hemmen.

Der Speck auf meinen Rippen haben sowieso Vorteile. In meinem Job muss ich mich viel mit verärgerten Leuten herumschlagen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass manche Bad Vibes schon darin stecken bleiben, bevor sie meine empfindsame Magengrube erreichen.

Alles paletti also. Ausser... letzthin sagte Herr T. am Abend zu mir: "Ist Dir eigentlich schon aufgefallen, dass Du nachts die Wohnungstür nicht mehr abschliesst?" Das war bemerkenswert, weil: Früher pflegte ich abends drei- bis viermal zu kontrollieren, ob ich die Haustür auch wirklich mit dem Schlüssel geschlossen hatte. Eine Art Urangst vor Einbrechern verfolgte mich.

Ich habe sie verloren.

24
Sep
2010

Von wegen neue Männer!

Der "Tagesanzeiger" machte dieser Tage ein ziemliches Wesen um so genannte neue Opas.

Zitat: "Gemäss Bundesamt für Statistik betreuen rund 12 Prozent der Männer zwischen 65 und 74 Jahren verwandte Kinder. Das ist ... ein erstaunlich hoher Anteil, bedenkt man, dass sich noch vor 50 Jahren kein Vater, geschweige denn Grossvater, mit Kleinkind im Arm oder Babywagen sehen lassen wollte."

Also, sorry, aber da muss ich doch ein bisschen lachen! Ich meine: Vor 45 Jahren - also fast vor 50 - war ich ein Baby. Und ich kann stolz vermelden, dass mein Vater sich mit mir im Babywagen nicht nur öffentlich zeigte. Er liess sich sogar damit fotografieren! Auf offener Strasse! Das Beweisstück kann ich jederzeit vorlegen.

Und was Grossväter betrifft: Also, da könnte manch ein so genannter neuer Opa eine Scheibe von meinem Grossvater Eugen Walholz abschneiden. Mein Bruder und ich liebten ihn. Wenn wir sonntags bei meinen Grosseltern waren, machte er den Clown für uns. Er konnte mit den Ohren wackeln. Er kannte allerlei Spielchen mit Fingern und Nasen und Sprüchlein. Er spielte ein bisschen Akkordeon.

Werktags durften wir in seine Backstube. Er brachte uns bei, wie man Nussgipfel dreht. Zeigte uns die Kakerlaken* in der Backgrube. Liess uns von der Mandelmasse schnausen. Passte auf, dass wir uns die Finger nicht in der Knetmaschine einklemmten. Nahm uns mit, wenn er im Auto Brot ausfuhr. Und wenn wir erkältet waren, holte er zuoberst vom Gestell eine grosse Blechbüchse. Er machte sie auf und hielt sie uns vors Gesicht. "So, jetzt nimm eine Nase voll!" sagte er. Er lachte sich einen Schranz in den Bauch, wenn wir dann eine Nase voll Treibsalz** herauszogen und nach Luft japsten. Ja, er konnte auch ein bisschen fies sein.

Vielleicht lag sein Geheimnis gerade darin, dass er selber ein kindliches Gemüt hatte. Ein idealer Ehemann und Vater war er jedenfalls nicht. "Zum Glück hast Du ihn geheiratet. Du bist doch so tüchtig", soll seine eigene Schwester einmal zu meiner Grossmutter gesagt haben. "Sie hielt ihn für ein bisschen debil", sagte meine Grossmutter.

Als Ernährer war er tatsächlich keine grosse Nummer. Seine Familie brachte er schlecht und recht als Bäckereigehilfe durch. Erst als er die Bäckerei selber pachten konnte und die Grossmutter einstieg, begann der Laden zu laufen. Aber sie hätte keinen anderen gewollt, sagte meine Grossmutter immer. Noch nach Jahrzehnten Ehe sei er ein zärtlicher Liebhaber gewesen.

Manchmal frage ich mich, ob der so genannte traditionelle Mann, dieser Super-Ernährer und emotionale Holzklotz, erst eine Generation nach meinen Grosseltern erfunden worden ist. Oder ob mein Grossvater einfach ein Freak war und ausgerechnet mein Bruder und ich das Glück hatten, ihn zum Grossvater zu bekommen.

Das hier hätte ihm gefallen:



* Bäckereien sind heutzutage wahrscheinlich hygienischer als anno dazumal
** Lebkuchengewürz, riecht stark nach Ammoniak und verschlägt einem den Atem, wenn man eine ganze Nase davon vollbekomt
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