21
Sep
2010

33 Nüsse für Frau Frogg

Im Dämmerlicht huscht Gottenbub Tim (5) unter den Haselnussbusch. Er sammelt für mich reife Nüsse, bis ich eine ganze Jackentasche voll habe. Grad bevor es richtig dunkel ist, entdecken wir auf der anderen Seite des Gartens noch zwei fast reife Tomaten und eine Handvoll Himbeeren.

Und weil Tim Frau Frogg so reich beschenkt hat, widmet das Radio der Kussbereiten ihm jetzt einen Song:

17
Sep
2010

Geheilt

Schriftsteller Tim Parks litt an merkwürdigen, chronischen Schmerzen im Becken. Diagnose gabs keine klare. Die Ärzte drohten ihm allerhand Misshandlungen an der Prostata an. Aber Parks fand einen anderen Weg. In diesem Buch erzählt er seine Geschichte:

Ich fand es in dieser Buchhandlung in London. Wen wunderts, dass Meniere-Patientin Frogg es sofort kaufte. Ich meine: Mein Leiden hat zum Glück einen Namen. Aber heilen können auch die besten Ärzte es nicht. Da ist jede denkbare Alternative zur Schulmedizin zu prüfen.

Hier eine Besprechung für Leute, denen es ähnlich wie Parks oder mir geht.

Das Buch gliedert sich grob in drei Teile. Den ersten können Leidensgenossen kursorisch lesen. Parks schildert darin gewissenhaft seine Symptome - und in welche Sackgassen er sich beim Nachdenken darüber verrennt. Er schräubelt an seiner Ernährung. Er denkt, es könnte "psychosomatisch" sein - und weiss nicht, was er mit diesem Gedanken anfangen soll. Und so weiter. Wir alle kennen diese meist mässig ergebnisreichen und oft genug qualvollen Erörterungen und Versuche.

Im zweiten sagt Parks im Wesentlichen: "Lest dieses Buch.

Mir hat es geholfen - oder mich jedenfalls auf den richtigen Weg gebracht."

Im wesentlichen geht es von der These aus, dass Beckenschmerzen eine Folge des vielen Herumsitzens und -Hirnens ist, das in unserer Kultur gang und gäbe ist. lehrt es offenbar Patienten mit Beckenschmerzen, ihre verspannten Muskeln zu lockern.

Wirklich lesenswert ist der dritte Teil des Buches. Parks begibt sich darin auf den Weg der östlichen Meditation. Er findet eine neue Beziehung zu seinem Körper, zur Sprache, zum Hier und Jetzt, zu seinem Leben überhaupt - kurz: Es geht ihm in jeder Hinsicht besser. Dabei bleibt er in der Sprache sachlich und präzis, meidet esoterische Klischees und jede andere Art von Besserwisserei. Interessanter Ansatz.

Als Kostprobe hier noch ein Zitat: "Die meisten Leute schämen sich, wenn man ihnen sagt, dass ihr Problem psychosomatisch ist. Sie fühlen sich angeklagt, schuldig. Es ist azeptabel, einen kranken Körper zu haben, da kann niemand etwas dafür. Bei einem kranken Geist ist es anders. Der Geist, das ist man selber, der Körper gehört einem bloss. Wenn man sich entscheidet, einen Psychotherapeuten aufzusuchen, ist das etwas anderes. Es ist akzeptabel, auf komplizierte Art unglücklich zu sein. Die meisten Leute würden sagen. Die Erkenntnis, dass man professionelle Hilfe braucht, zeigt Demut und einen klaren Verstand. Aber jemand, der seinen Körper krank macht, weil er nicht wahrhaben will, dass sein Geist ein Problem hat, ist einfach ein Verlierer." S. 79, Übersetzung von mir.

16
Sep
2010

Standfeste Freundin

Meine akademisch tätigen Freunde reisen zurzeit wie die Verrückten. English war gerade in Hawaii, mein Bruder in Istanbul. Acqua scheint in Liverpool zu sein. Und Veronika hat mir neulich genüsslich von ihren Ausflügen nach Helsinki und Heidelberg erzählt.

Nur ich sitze hier im Städtchen fest - mit einem Job, der meine Ohren schonen soll, wenig versprechenden Perspektiven und schon etwas blassgelb um die Nase. Das kommt vom Neid. Und von den Status-Ängsten. Ich war auch mal Akademikerin. Nicht, dass ich es je wieder sein möchte. Aber Liverpool oder Istanbul... das klingt richtig fies.

Ich brauchte Trost und rief meine Freundin Helga in Deutschland an. Sie ist zwar stolze Trägerin eines Doktortitels der Literaturwissenschaften, aber bei ihr brauche ich keine Status-Ängste zu haben. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mittlerweile - gerade so knapp - als Nanny. "Das ist das beste, was ich seit vielen Jahren getan habe", versichert sie mir jedes Mal, wenn ich sie anrufe. Sie scheint ganz gut mit wenig Geld zurecht zu kommen. "Weisst Du, ich habe ja mal richtig gut verdient." Sie arbeitete im Marketing. "Wenn ich eine Prada-Tasche wollte, dann kaufte ich mir eine Prada-Tasche", sagt sie. Jetzt sei ihr das nicht mehr wichtig. Und reisen, nein, das tue sie ja sowieso nicht gerne. Sie sei ganz froh, einen Grund zu haben, nicht mehr zu verreisen.

Und überhaupt: Sie sei mit den Kindern im Wald gewesen. Und da habe sie eine Blindschleiche gesehen - und einen Tintenfisch-Pilz! Grossartig sei das gewesen.

Doch diesmal sah es so aus, aus brauche sie vielleicht selber Trost: Der Vater "ihrer" Kinder hat seinen Job verloren. Klar, dass die Nanny jetzt gehen muss.

Ein bisschen verzagt klang sie schon. "Ich muss mir ja wieder einen Job suchen. Aber weisst Du, es gibt Dinge, die ich einfach nicht mehr tun will. Als ich noch im Marketing war, da stand ich an jeder Sitzung neben mir und dachte: 'Das bin doch gar nicht ich! Mein Gott: Was mache ich denn da?!'" Da wolle sie nicht mehr hin. Da verzichte sie gerne auf Prada-Handtaschen! Da streiche sie lieber den Gartenzaun ihrer Mutter.

Überhaupt: Das Leben sei doch viel zu kompliziert geworden! Sie sagte ein paar Dinge, die ein bisschen ähnlich klangen wie dieser Kommentar von rosawer neulich. Eben habe sie ein Inserat gelesen: "'Engagierte Putzfrau gesucht'! Ich meine: Da sträuben sich bei mir die Nackenhaare, wenn jeder um jeden Preis nach Höherem streben muss. 'Engagierte Putzfrau!' Kann man denn nicht einfach Putzfrau sein und seinen Job machen?! Will ich mit so einer Gesellschaft etwas zu tun haben?!"

Wir diskutierten hin und her. Nach mehr als einer Stunde hatten wir die Sache ausdiskutiert: "Ach, Helga", sagte ich, "ich bin ganz sicher: Du fällst schon wieder auf die Füsse!"

Da sagte sie: "Ich bin ganz sicher, dass ich sowieso auf den Füssen stehe!"

13
Sep
2010

Tabletten, Tabletten, Tabletten

Sie heisst Rebekka, und wir haben uns seit vielen Jahren nicht gesehen. Jetzt sitzen wir zusammen auf der Münster-Plattform in Bern. Es ist ein irrsinnig schöner Frühherbst-Tag. Ihre bildhübsche Vierjährige spielt selbstvergessen im Kies, da erzählt sie es mir hinter vorgehaltener Hand: Eines Tages konnte sie nicht mehr schlafen. "Wenn es Abend wurde, geriet ich in Panik. Im Bett lag ich da mit rasendem Puls. Mit der Zeit war ich total erschöpft. Manchmal schien mir die Aufgabe, ein Mittagessen zu kochen, monströs und unlösbar." Statt dessen sass sie da und weinte. Den ganzen Tag, wenn die Kinder es nicht merkten. Ihr Mann schickte sie schliesslich zum Psychiater. Der gab ihr das Übliche: Zoloft, Remeron, Temesta.

Mein Mund fiel auf. Rebekka war für mich immer die Verkörperung von Selbstkontrolle und Eleganz gewesen. An der Uni waren wir ein ungleiches Paar: Sie die Klasse-Frau, ich der Freak. Ich wusste nie, ob ich sie etwas oberflächlich finden oder furchtbar beneiden sollte. Sie heiratete einen etwas steifen, aber durchaus liebenswürdigen Berner Anwalt. Fand einen Job an einem Berner Gymnasium. Hatte zwei Töchter. Verschwand von der Bildfläche. Und jetzt das.

Wenige Tage später, ein Apéro unter Kastanienbäumen mit meiner Kollegin Franziska. Irgendwann kommen wir auf das Burnout zu sprechen, das sie vor einer Weile hatte. Sie ist freie Journalistin und verdient gut, wenn auch unregelmässig. Ihrem Mann hat die Krise in der Branche das Geschäft ruiniert. Der Sohn pubertierte. Das Burnout hatte sie. Sie bekam das Übliche: Remeron und Temesta.

Ich kann beim Thema gut mitreden. Während meiner Hörstürze im letzten Herbst schlief ich nächtelang nicht. Panik verfolgte mich 24 Stunden. Als ich wieder einmal im Spital auftauchte, sagte ich zum Assistenzarzt, der gerade Dienst hatte: "Am liebsten wäre es mir, wenn sie mich für fünf Tage ins Koma versetzen könnten." Er begriff und gab mir fünf Temesta mit auf den Weg, später ein Dauerrezept. Wahrscheinlich hat er mir das Leben gerettet. Mein Hausarzt gab mir Remeron dazu - weil Temesta süchtig macht. Im Moment nehme ich beides. Das Remeron in einer grossen, das Temesta nur noch in einer winzigen Dosis. Ich bin immer noch zuversichtlich, den Entzug irgendwann ganz zu schaffen.

Wenn ich die Fahrgäste in einem Zug anschaue, dann frage ich mich in letzter Zeit oft: Wie viele von diesen scheibar so normalen, so geschäftigen Leuten kommen nur mit Tabletten durch die Nacht?

Was ist früher mit solchen Leuten passiert?

Edit: Natürlich gehört dieser Song zu diesem Eintrag:



Ich habe glatt vergessen, was für ein flotter Song das ist!

12
Sep
2010

Im Hosenanzug

Seit zwei Monaten bin ich 45. Damit gehöre ich marketing-soziologisch zu einer neuen Altersgruppe: Ich bin jetzt mittleren Alters. Das wirft neue Fragen auf, zum Beispiel: Wie soll ich mich kleiden, wenn ich älter werde? Ich tue etwas, was ich früher nie getan habe, weil Kleider mir egal waren (ich weiss, das glaubt mir jetzt keiner, aber egal!): Ich achte darauf, was andere Frauen tragen.

Dabei will es der Zufall, dass mein Bus vom Bahnhof zu mir nach Hause auch an einem Altersheim vorbeifährt. Am Sonntag brauche ich mich darin nur umzusehen und ich kann feststellen: Der Hosenanzug steht bei Frauen ab 60 hoch im Kurs. Da sitzen sie, die alten Damen, adrett und schmal wie Porzellanpuppen, jede von ihnen in einem marineblauen oder fein karierten Sonntagsanzug. Das gute Stück verhüllt und formt zugleich und hat etwas Klassisches.

Was die Frauen an jugendlichen Schmelz verloren haben, machen sie mit filigranem Goldschmuck wett. Sie müssen eine gewisse Kaufkraft haben. Wahrscheinlich besuchen sie ihre pflegebedürftigen Ehemänner, die in ihren besten Jahren als Staatsbeamte und Ingenieure gewirkt haben.

Wobei - nicht alle älteren Damen beweisen bei der Wahl ihrer Hosenanzüge Diskretion und Klasse. Letzthin habe ich in der Migros ein Paar eineiige Zwillinge um die 70 gesehen. Sie trugen beide den tupfgenau gleichen und gleichfarbigen Hosenanzug - psychedelisch leuchtend hortensienblau. In der winzigen Migros verstellten die beiden dicht an dicht den Weg zwischen den Gestellen. Und doch wollten und wollten sie nicht zu einem einzigen hortensienblauen Farbfleck zusammenschmelzen. Der Anblick war surreal - geradezu verstörend.

"Nein, ich will einmal keinen Hosenanzug tragen!" denkt Frau Frogg. Überhaupt: Alle diese Hosenanzug tragenden Damen scheinen eine zierliche Figur zu haben. Ihr Anblick zeugt stets von einem in Anstand und Mässigkeit verbrachten Leben. Wie langweilig.

Ich habe mein Leben nicht in Anstand und Mässigkeit verbracht. Ich fürchte, ich werde einmal ein Bäuchlein haben. Und kein Geld für einen Hosenanzug.

Ich bin ratlos.

Zum Glück habe ich kürzlich am Bahnhof ein ganz anderes Kaliber Frau gesehen. Eine Mitfünfzigerin mit langen roten Haaren in Jeans und einem Holzfällerhemd. Sie hatte eine robuste Figur und etwas Verwegenes. Eine zur Piratin gewordene Sirene.

Ich war erleichtert. So etwas gibt es also. Ja, genau: So möchte ich älter werden.

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