8
Sep
2010

Karriereknick mit 40

Dieser Eintrag ist als Trost für alle gedacht, die sich in Ihren Vierzigern unversehens im Karriere-Abseits wiederfinden. Er ist über Winston Churchill.

Der Zufall hat mir in dieses Buch in die Hand gespielt. Es dokumentiert (unter sehr vielem anderem), wie der später so grosse Brite mit 41 als Marine-Minister kläglich scheiterte. Man machte ihn für das Seeschlacht-Debakel von 1915 im türkischen Gallipoli verantwortlich. (Hier habe ich berichtet, wie wir im türkischen Bus die historische Stätte passierten). Für den türkischen General Kemal Mustafa war der Sieg im Blutbad an den Dardanellen der erste Tritt auf einer Karriereleiter, die ihn später zu Atatürk machte. Dem Atatürk.

Für Churchill war es ein vorläufiger Untergang. Er fühlte sich unschuldig. Hätte man nur besser auf ihn gehört! Er sah sich als Sündenbock. Als er zurücktreten musste, ging er als Offizier in die französischen Schützengräben.

Er war nicht nahe genug an der Front, um wie so viele andere abgeschlachtet zu werden.

Die nächsten Jahrzehnte lässt er sich nicht unterkriegen. Die ganzen dreissiger Jahre lang wettert er, man dürfe sich einem gewissen Herrn Hitler gegenüber nicht so schüchtern gebärden, wie es der amtierende britische Premier Chamberlain tut. 1939 zahlt sich das aus: Hitler wird auch den Briten zu gefrässig und Churchill wieder Marineminister. 1940 schlägt dann seine grosse Stunde. Er wird Premierminister und soll Grossbritannien vor nichts geringerem als dem Untergang retten. Er ist 66.

Die Moral von der Geschicht' lautet natürlich: Karriereknick? Nicht so schlimm. Nicht locker lassen. Manchmal gibts eine richtig gute zweite Chance. Nur zeigt sie auch: Bei manchen Leuten kann der Rest der Menschheit froh sein, wenn die Geschichte ihnen ihre zweite Chance nicht gibt. Auch wenn sie führungsstark sind und gute Absichten haben.

Dazu das alternative Tondokument:

6
Sep
2010

Sie ist gestorben

Manche Nachrichten erreichen einen im allerdümmsten Moment. Ich stand gerade in der Migros und hielt Ausschau nach der Kasse mit der kürzesten Schlange, da klingelte mein Handy. Es war meine Mutter. "Grossmutter Walholz ist gestorben", sagte sie in den Lärm hinein. Ich hatte den ganzen Tag mit dem Anruf gerechnet. Ich hatte gewusst, dass es jederzeit soweit sein konnte. Es war kurz vor 16 Uhr.

Meine Mutter klang sehr förmlich.

Nach dem Telefon zahlte ich und stieg in den Bus. Ich musste noch einmal ins Büro. Als der Bus über die Brücke fuhr, stach gerade ein fröhliches Touristenschiff in den See. "Halt!" dachte Frau Frogg, "Halt! Das ist nicht fair! Da sollte kein Schiff hinausfahren. Die Welt sollte stillstehen! Wenigstens eine Minute lang!"

Aber das Schiff stand nicht still und mein Bus auch nicht.

Nach der Arbeit ging ich nach Hause. Es herrschte Feierabend-Verkehr. "Jetzt könnte die Welt stillstehen. Oder wenigstens ich." Aber der Moment zum Stillstehen war vorbei.

5
Sep
2010

Sie will nicht mehr spielen

Seit sie sprechen kann, haben wir zusammen Rollenspiele gemacht. Im Wohnzimmer deklinierten die Erwachsenen die grossen Themen aus Politik und Gesellschaft durch. Im Spielzimmer sassen Marie-Christine (9) und ich und spielten Puppenspiele, Plüschtier-Spiele, Arztbesuche, Hochzeiten, Playmobil-Spiele mit einem Zoo, Kinderfressern, gebrochenen Beinen und Armen und anderen kleinen Katastrophen. Diese Rollenspiele waren unsere Verbindung, unser gemeinsames Glück.

Hier habe ich davon erzählt.
Und Hier.

Aber jetzt ist alles anders.

Marie-Christiane ist gross geworden. Es ist, als hätte jemand irgendwo in ihr drin einen Schalter umgekippt. Sie hat andere Augen. Es sind wache, klare Augen. Es sind fröhliche Augen, träumerische Augen. Aber es sind auch Augen, die Dinge verbergen. Sie will keine Rollenspiele mehr spielen.

Ich hatte geglaubt, ich hätte eine Korridor zu ihrem Herzen auf sicher, jedenfalls bis zu ihrer Pubertät. Aber jetzt ist alles anders. Wir mussten eine andere Tür suchen. Ich suchte. Ich glaube, sie suchte auch.

Schliesslich fanden wir eine Tür. Ich brachte ihr das Armdrücken bei. Das machte ihr Spass.

Wer hätte das gedacht?

4
Sep
2010

Süsses Wiener Mädchen-Souvenir

Meine Nichten waren in Wien in den Sommerferien. Stolz zeigen sie mir den Sissi-Bildband, den sie als Souvenir nach Hause gebracht haben. Carina (5) blättert und beginnt mir laut das Inhaltsverzeichnis vorzulesen. Sie kann jetzt lesen, und sie will es mir zeigen. Wie wissensdurstig sie und Marie-Christiane (9) geworden sind! Sie hören alles, saugen alles auf, wollen alles genau wissen! Was für eine Gier mich packt, ihnen alles weiter zu geben, was ich selber weiss! Sie werden es einmal brauchen! Ich bin ganz sicher!

Carina liest fliessend alle Kapitel-Überschriften bis zur letzten. Hier stockt sie. Schliesslich kommt es zögerlich: "Mater... dolorosa!" Ähem. Jetzt zögert die Tante. "Mater dolorosa ist Lateinisch und heisst so etwas wie 'die schmerzensreiche Mutter'" rücke ich schliesslich heraus. Müssen kleine Mädchen wissen, was 'mater dolorosa' heisst? Überhaupt habe ich keine Ahnung, wieso Sissi eine mater dolorosa gewesen sein soll. Die beiden schauen mich fragend an und ich beginne einen etwas unbeholfenen Exkurs: "Wisst Ihr, die Muttergottes hat man die Schmerzensreiche genannt, weil ihr Sohn gestorben..."

"Aha!" fällt Marie-Christiane kompetent ein. "Der Sohn von Sissi hat sich das Leben genommen. Er hiess Rudolf und er litt unter der strengen Erziehung am Hof. Und seine Freundin starb mit ihm, weil sie nicht ohne ihn sein wollte." Auch Carina plappert jetzt wild vom Sohn Rudolf drauflos, der sich erschossen hat.

Müssen kleine Mädchen wirklich alles wissen?

1
Sep
2010

Spazierweg geklaut

Es war eine empörende Feststellung an einem sonnigen Sonntagnachmittag: Jemand hatte den Spazierweg von Grossmutter Walholz geklaut. Jemand hat ihn stinkfrech dem Volksmusik-Helden Ruedi Rymann gewidmet und zum "Schacher Seppli-Weg" erklärt. Das geht nicht! Das ist der Weg unserer Grossmutter! Das war der Weg, auf dem wir Kinder eine wichtige Lektion fürs Leben lernten. Eine Lektion über die Katholische Kirche. Wir lernten, dass diese einmal kläglich in ihrer Kernkompetenz versagt hat - der Nächstenliebe. Doch wir hörten auch: Unsere Grosseltern triumphierten über diese Kirche und ihre Verfehlungen. Auf diesem Weg. Niemand hat das Recht, ihn einfach so mit "Schacher Seppli"-Tafeln vollzustellen!

Was ich vom volkstümlichen Evergreen "Schacher Seppli" halte, habe ich hier eingehend beschrieben. Für alle, die das Lied nicht kennen: Hier ist es.



Und die Geschichte meiner Grossmutter zum so genannten Schacher Seppli-Weg? An dieser Stelle habe ich sie schon einmal erzählt. Hier noch einmal die Kurzform: Meine Grosseltern waren Zuwanderer im schönen Schacher Seppli-Kanton. Auswärtige! Das allein war schon schlimm genug. Kam noch dazu: Grossvater Walholz war reformiert. Ein Skandal. Als die beiden anno 1941 heiraten wollten, gab es echte Probleme. Denn im Schacher-Seppli-Kanton herrschte Kulturkampf-Stimmung. Reformierte kamen laut reiner katholischer Lehre schon nicht in den Himmel. Da wollte sie im schönen Kanton Obwalden auch niemand einen Reformierten vor einem katholischen Traualtar sehen. Die beiden konnten wohl katholisch heiraten. Aber sie hätten vor der Schwelle der Kirche stehenbleiben müssen. Ob der Pfarrer ihnen in der grossen Pfarrkirche bis zur Türschwelle entgegen gekommen wäre? Oder ob er ihnen das Ehe-Sakrament vom Altar aus entgegen gebrüllt hätte? Ich weiss es nicht.

Denn meine Grosseltern liessen sich nicht in der Pfarrkirche trauen. Sondern sie gingen jenen langen Weg flussaufwärts, der heute der Schacher Seppli-Weg ist. Am oberen Ende des Wegs steht eine kleine Kapelle. Sie ist so winzig, dass die Türschwelle nur einen Meter vom Altar entfernt ist. Es ist eine Kapelle mit Cachet: Noch heute erinnern Gedenktafeln darin an eine gewaltige Überschwemmung, die einst das ganze Tal zerstört hatte. Doch am Hochzeitstag meiner Grosseltern hielt der Himmel seine Schleusen geschlossen. Die Gäste konnten auf den Steinbänken vor der Kapelle Platz nehmen.

Hundertmal hat uns Grossmutter Walholz diese Geschichte erzählt! Hundertmal haben wir diesen Weg abspaziert.

Das ist seine wahre Geschichte! Nur, damit das auch noch gesagt sei.
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