vorm buechergestell

19
Aug
2009

Eine extrem starke Frau

Neulich erzählte ich einer Kollegin von meiner Kroatien-Reise. Da hat sie mir dieses Buch über Monika Hauser gegeben. Es erzählt, wie die Frauenärztin in Bosnien eine Hilfsorganisation für vergewaltigte Frauen aufgebaut hat. Trotz seines in meinen Augen missglückten Titels fesselt es mich, wie mich schon lange kein Buch mehr gefesselt hat.

Weil es drei Dinge bewirkt:

1) Monika Hauser ist eine Frau meiner Generation und in der Schweiz aufgewachsen. So komme ich in den ersten Kapiteln nicht umhin, laufend meine Biografe an jener von Hauser zu messen. Dass ich dabei nicht besonders gut wegkomme, wurmt mich zwar ein bisschen. Aber dafür kann ich gut einschätzen, wie viel Kraft, Empathie und Zivilcourage diese Frau hat. . Ich kann nicht beurteilen, was es heisst, ein Hilfswerk aufzubauen. Aber ich kann mir vorstellen, was es bedeutet, eine Bresche in die Bastion der chauvinistischen Frauenärzte von anno dazumal in einem Landspital zu schlagen. Und das hat Monika Hauser getan, im Südtirol, in Schlanders.

2) Spätestens im zweiten Drittel erfüllt mich tiefe Dankbarkeit dafür, nie Opfer eines ernst zu nehmenden sexuellen Übergriffs geworden zu sein.

3) Es schärft mein Bewusstsein dafür, wie wichtig der liebevolle Umgang mit meinen Mitmenschen ist - auch hier, auch in meinem Job.

4) Es stellt Fragen nach der Herkunft psychosomatischer Krankheiten. Fragen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Aber es sind Fragen, die für mich relevant bleiben.

20
Apr
2009

Jungfräulicher

Elizabeth George ist eine der besten angelsächsischen Krimiautorinnen der Gegenwart. Sie beweist es auch in ihrem neuesten Werk. Zwischen diesem mächtigen Konvolut der Spannung hat sie doch immer auch mal Platz für ein intelligentes Spielchen mit der Sprache.

Zum Beispiel hier, als der reativierte Detektiv Thomas Lynley eine Frau befragt, die gerade am Krabbenkuchen backen ist. Mit Olivenöl, wie sie sagt: "E.V.O. Extra virgin olive oil. The virginest you can find. If there are degrees of virginity in olives." (S. 430 in der Hodder-Taschenbuchausgabe). Auf Deutsch: "Olivenöl extra vergine*. Das jungfräulichste, das man bekommen kann. Wenn es denn Abstufungen von Jungfräulichkeit gibt bei den Oliven."

Das Gebrabbel, das jetzt folgt, überlese ich. Ich schmunzle darüber, dass George eine Steigerungsform braucht, wo es gar keine gibt. Frau ist jungfräulich oder sie ist es nicht, so will es unsere Weltsicht. Und dann ertappe ich mich bei einer Frage: Kann die Aufgabe der Jungfräulichkeit vielleicht doch ein gradueller Prozess sein? Ein Prozess, der sich über Tage, Wochen oder gar Jahre hinzieht? Ich meine: Jungfräulichkeit ist etwas höchst Paradoxes. Man kann sie von aussen nicht sehen, und doch ist sie für den sozialen Status eines jungen Mädchens entscheidend. Und sagt jetzt nicht, heute und im Westen sei das nicht mehr so. Im Gegenteil: Ich bin sicher, dass viele junge Mädchen heute kaum drauf warten können, ihren Freundinnen zu erzählen, dass sie (endlich) ihre Jungfräulichkeit losgeworden sind.

Wenn man aber Sex nicht als Akt der Selbstbehauptung im jugendlichen Umfeld betrachtet, ist das erste Mal nur ein Schritt in einem langen Prozess: jenem der Entdeckung der eigenen Sexualität.

George ist da wahrscheinlich derselben Ansicht. Jedenfalls schwadroniert sie in ihrem 550-Seiter so eloquent übers Windsurfen, Vaterschaft und die grosse Trauer um den Ehepartner wie über verschiedene Erscheinungsformen der weiblichen Sexualität. Jungfräulichkeit in ihrer absoluten Form ist kein grosses Thema. Ziemlich lesenswert, finde ich.

* Aus erster Pressung. Text von mir selber dilettantisch übersetzt. Ich fange gar nicht erst an, mir vorzustellen, wie ein Profi sich müht, die Köstlichkeit dieser Stelle ins Deutsche mitzunehmen.

Elizabeth George: Careless in Red, Hodder, 2009.

5
Apr
2009

Krimi in der Krise

Neulich wachte ich um fünf Uhr morgens auf und konnte nicht mehr einschlafen. "Na gut", sagte sich die Frogg, "Dann arbeitest Du jetzt an Deinem Krimi weiter. Vielleicht wäre es sowieso besser, wenn Du diese Arbeit auf den frühen Morgen verlegen würdest."

So nahm ich das zweite Kapitel zur Hand, an dem ich gerade arbeite. Ich las es wieder einmal in seiner Gänze - und fand es unerträglich. Die Details erspare ich Euch. Vielleicht lag es ja nur daran, dass das Frogg'sche Urteilsvermögen um fünf Uhr morgens noch nicht in Vollbetrieb ist.

Aber wahrscheinlich habe ich Recht und das Ding ist einfach nur ein Riesenhaufen Mist.

Ich sagte mir: "Also gut. Ich vergesse dieses Geschreibe. Ich finde mich damit ab, dass ich doch nicht zur Schriftstellerin geboren bin. Statt dessen werde ich:

- den Frühling so richtig geniessen
- meine Türkisch-Kenntnisse für die Ferien im Mai aufpolieren
- wieder mehr bloggen
- noch ein paar dringende Anschaffungen machen, bevor die Wirtschaftskrise meine Ersparnisse vernichtet

Ich fühlte mich froh und erleichtert.

Bis mir Tree einfiel. Tree, der mir bei meinen Recherchen so viel geholfen hat. Ich habe ihn zum letzten Mal vor ein paar Wochen an einem Fest gesehen. Wir waren die Letzten, die noch in den Sofas hingen, vier fünf Leute, morgens um zwei oder drei. Irgendwie kamen wir auf Bücher zu reden, auf das, was wir so lesen und lesen möchten. Es gab eine kurze Pause, und plötzlich murmelte Tree, etwas betrunken wie wir alle: "Frogg möchte ich endlich lesen! Ja, Frogg möchte ich lesen!"

Wenn mir ein Gedanke wirklich einfährt, dann denke ich Englisch. Nicht immer the Queen's English, aber so ist es nun mal. Als mir Tree in diesem Sofa einfiel, dachte ich: "Oh God!" und dann sagte ich halblaut: "Fucking Hell!"

Heute Morgen um 10 Uhr habe ich beschlossen, dem Ding noch eine Chance zu geben. Ich weiss nur noch nicht, wann. Und wie genau.

22
Mrz
2009

Anderson's "Cityboy": Verriss

Bücher über die Finanzkrise boomen zur Zeit. Auch solche, die dem Phänomen literarisch beizukommen versuchen. Ich habe zur Zeit diesen Titel aus Grossbritannien auf dem Nachttisch.

Eben habe ich in dern Sonntagszeitung gelesen, dass das Buch nächste Woche auf Deutsch erscheint. Sofort entschloss ich mich, vor der Lektüre zu warnen. Nicht lesen sollten es all jene, die von einem Buch einen halbwegs differenzierten Einblick in die Tiefe der menschlichen Seele erwarten.

Schon der Untertitel hätte mich warnen müssen: "Beer and Loathing in The Square Mile" legt zwar Anlehnung an ein grosses Vorbild nahe: Fear and Loathing in Las Vegas stammt von Hunter S. Thompson und damit von einem literarischen Schwergewicht. Doch die Anspielung klingt wie eine alkoholselige Verballhornung, und genau diese Erwartung löst der Text auch ein. Geraint Anderson bleibt in seinem Sinnieren fast durchwegs dem Bier (wahlweise auch dem Koks) verhaftet. Er schildert seine Abstürze und die seiner Kollegen mit einer wenig erhellenden Mischung aus moralischer Empörung und pubertärem Stolz: "Boahhh! Ihr glaubt nicht, wie voll ich war!" könnte ein Zitat von Anderson sein. Keine literarisch wertvolle Aussage, wenn Ihr mich fragt.

Überhaupt: Anderson's sprachliche Fähigkeiten bewegen sich auf der Skala irgendwo zwischen "noch witzig" und "vollkommen banal". Es gibt darin Sätze, die ich auf den Mond schiessen könnte, so nichtssagend sind sie. Zum Beispiel (Cityboy über seinen Chef): "I knew David was married and the fact he was willing to introduce me to his mistress made me feel part if his ' inner circle of trust' and that made me feel good'." (S. 27)

Es könnte ja sein, dass Anderson will, dass seine Romanheld so spricht - weil er eben einer dieser Banker-Idioten ist und über sich und die Welt nichts Geistreicheres sagen kann. Aber ich kann mich des Verdachts nicht ganz erwehren: Anderson kann es nicht besser. Er schreibt bekanntlich hier seine eigene Geschichte.

Naja, vielleicht hat die Frogg zu viel erwartet, als sie sich von einem einstigen Analysten eine literarische Reise in die Abgründe der Banker-Seele versprach. Da sollte ich mich vielleicht doch an den Ex-Marketing-Mann Martin Suter halten. Er hat die kleinen Eitelkeiten der Zürcher Business-Leute leichtfüssig und doch brilliant beschrieben. Aber eine halbwegs ernst zu nehmende Erörterung der Frage, was die Banken der Welt in den Abgrund getrieben hat, sollte bei Anderson laut Vorbesprechungen eigentlich drinliegen, dachte sie. Bis jetzt: Fehlanzeige.

Klar: Banker sind zynische Typen und geldgeil. Sie koksen und sie sind ach so versoffen! Haben wir es nicht schon lange gewusst? Klar: Männer unter sich machen gerne sexistischen Witzchen. Wer sich diesbezüglich weiterbilden möchte, wird im Buch übrigens gut bedient. Wahrscheinlich ist es nicht zuletzt deswegen ein Bestseller geworden. Und klar: das Banker- Business kennt zynische Überlebens-Regeln. Doch welches Business kennt die nicht? Das alles macht die Menschen in den schwarzen Anzügen zwar nicht sympathischer. Aber es erklärt nicht das Versagen des ganzen Systems.

Vielleicht lässt es vor allem eine alarmierende Feststellung zu: Wenn Anderson derjenige mit dem menschlich besten Durchblick in dieser Zunft ist, dann Gnade uns Gott.

13
Mrz
2009

Zwei Fragen über die Liebe


Endlich begreife ich auch, was mich an diesem Buch so begeistert.

Es stellt unüberhörbar und dringend zwei elementare Fragen über die Liebe:

1) Welche Ansprüche stelle ich an einen Partner, mit dem ich dauerhaft zusammen bleiben will? Oder anders gefragt: Was soll es sein, was uns beide zusammen hält? Muss er fähig zu einem so differenzierten emotionalen Austausch wie es Peter von Roten war? Oder genügt auch eine durch gemeinsame Erlebnisse errungene Stabilität der Gefühle?

2) Worauf wäre ich zu verzichten bereit, um die Bindung mit einem geliebten Partner einzugehen?
- Wäre ich bereit, mich wegen meines Partners mit meiner Familie zu zerstreiten?
- Wäre ich bereit, mich mit jemandem einzulassen, der eine komplett andere Weltanschauung hat?
- Wäre ich bereit, dafür an den hinterletzten Ort zu ziehen?

9
Mrz
2009

Hütet Euch vor Haacker

Er sieht ganz unscheinbar aus, dieser Christoph Haacker. Als könnte er kein Wässerchen trüben. Er sitzt hinter dem Stand seines Kleinverlags Arco und bewacht seine Bücher. Denkt man, wenn man so an der Messe Luzern bucht unterwegs ist wie ich das letztes Jahr war. Was sollte er auch sonst tun? Alle machen das hier so.

Aber wehe man (oder frau) nähert sich Haackers Büchern und lässt seinen Blick aus Hördistanz über die Bände auf seinem Stand schweifen. Dann enthüllt Haacker seine wahre Natur: Er löst sich von seinem Stuhl. Er spricht. Er wird zum Verkäufer. Zu einem hervorragenden Verkäufer. Zum Verführer. Er lässt die Kundin sofort durchschauen, dass er nichts anderes will als ihr etwas verkaufen. Unbedingt. Das ist sein Job. So ist das Leben, machen wir uns einen gepflegten, feinen Spass draus, sagen seine Mundwinkel, derweil er spricht! Und so wird die Kundin nicht gehen, bevor sie ein Buch erstanden hat, einfach weil sie sein Spiel mag. Er muss seine Verkäuferlehre bei einem Türken gemacht haben!

Mir hat er letztes Jahr Ludwig Winders "Die Pflicht" aufgeschwatzt. Er machte mich glauben, es sei ein Krimi. Ist es nicht. Es ist die Geschichte eines Widerstandskämpfers im Prag des Zweiten Weltkriegs. Präzis in der Sprache, karg, parabelhaft beinah. Es war nicht das begeisterndste Buch, das ich letztes Jahr gelesen habe. Aber es vermittelte mir ein paar höchst bedenkenswerte Einsichten über den Geist des tschechischen Widerstands. Über die Situation eines kleinen Landes in der Nähe des Tausenjährigen Reiches.

"Nehmen Sie es nach Hause und lesen Sie es! Wenn es Ihnen nicht gefällt, nehme ich es wieder zurück!" hatte er mir nachgerufen

Nun ja, ich bin ja nicht der Typ, der bei so etwas die Probe aufs Exempel macht!

"Und sonst kommen Sie nächstes Jahr und sagen Sie mir, wie es Ihnen gefallen hat" hatte er auch gesagt.

Das tat ich am Wochenende, als wieder "Luzern bucht" war. Dann kaufte ich ihm ohne lange zu verhandeln Vladimir Körners "Adelheid"ab.

"Aber seien Sie gewarnt! Es ist todtraurig!" rief er mir noch nach.



Erst draussen wurde mir klar: Ich hatte es ihm diesmal viel zu leicht gemacht.

7
Mrz
2009

Packende Liebesgeschichte


Das Buch ist bald zwei Jahre alt. Ausserdem dürfte es eher Schweizer Leser interessieren. Dennoch kann ich es nicht lassen, hier darüber zu schreiben. Denn ich finde es gerade unglaublich packend. Es schwebt in meiner Gunst ohne Ruhm über allen sieben Wellen und sämtlichen Feuchtgebieten.

Ich stehe auf Seite 272, und bislang hat es mir viel von Peter von Roten erzählt, einem Mann voller Widersprüche: Er stammt aus einer katholisch-konservativen Walliser Aristokratenfamilie. Aber er ist auch Armeegegner und hat linke Tendenzen - und das während des Zweiten Weltkrieges! Er ist auf eine Art verklemmt wie es vielleicht nur unsere Schweizer Väter sein konnten. Doch während die meist schwiegen, gelingt es Peter, seine Dilemmas und Unsicherheiten so eindringlich in Worte zu fassen, dass es zuweilen richtig weh tut, immer aber fesselt. Er tut es in den 40er-Jahren in Briefen an Iris Meyer, die später seine Frau wird. Einige Briefe sind in langen Strecken wörtlich zitiert. Und wo Peter nicht selber zu Wort kommt, füllt Autor Wilfried Meichtry mit gut informierter Intuition die Lücken.

Nun ist Iris von Roten-Meyer auch nicht niemand: In den fünfziger Jahren schrieb sie ein heftig umstrittenes Standardwerk des Schweizer Feminismus. Auch ihre Briefe beeindrucken durch eine aussergewöhnlich hoch entwickelte Fähigkeit, ihr Empfindungen in Worte zu fassen. Sie war zudem alles, was ihr späterer Ehemann nicht war: urban, ehrgeizig, auch nach aussen unkonventionell.

Dass die beiden in ihren Briefen zunächst unaufhörlich streiten, liegt nicht nur in der Verschiedenheit der beiden begründet. Vor allem er sträubt sich zunächst ungeheuer gegen die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübt. Manchmal ist er ein solcher Umstandskrämer und dabei so witzig, dass man gleichzeitig lachen und ihn schütteln will. So wird die Annäherung der beiden vielleicht zum kompliziertesten breiflich dokumentierten Liebeswerben der Weltgeschichte.

Jetzt warte ich darauf, dass Meichtry mir noch mehr über Iris erzählt. Denn sie interessiert mich mehr als die noble Familie von Roten, der Meichtry (zu) viel Raum gibt. Streckenweise erliegt er leider der Versuchung, sich zu ihrem Familienhistoriker zu machen und wirkt dann provinziell. Ich verstehe zum Beispiel nicht, was das Kapitel über Peters Rilke-Recherchen (ein Gerücht besagt, dass Rilke unehelicher Sohn eines von Roten war) mit der Geschichte des Liebespaars Peter und Iris zu tun hat.

Mit seiner Herangehensweise liegt Meichtry übrigens quer zum aktuellen öffentlichen Bewusstsein: Wer Peter von Roten googelt, findet zu ihm fast nur noch Zugang bei Einträgen über seine Frau. Das ist aussergewöhnlich. Normalerweise verschwinden ja auch starke Frauen in der Geschichtsschreibung hinter ihren Ehemännern.

Aber noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er Iris bald der gleichen gründlichen und verständigen Analyse unterziehen wird wie Peter.

Wilfried Meichtry: Verliebte Feinde - Iris und Peter von Roten, Ammann Verlag, Zürich 2007

5
Dez
2008

Buch der zornigen Frauen

Falls jemand ein Weihnachtsgeschenk für eine intelligente Frau sucht, die gerne liest: Schenkt ihr Bastard von Istanbul von Elif Shafak. Das ist ein kluges, gewagtes, spannendes und sehr komisches Buch.

Das Buch hat zwei zornige, junge Frauen als Hauptfiguren: Asya (19) aus Istanbul und Armanoush (21) aus Arizona.

Asya lebt mit ihren vielen Tantchen und Grossmüttern in einem Haus in Istanbul. In einem Haus ohne Männer. In einem Haus, das keine Geschichte zu haben scheint. Keine Geschichte haben will. Asya kennt nicht einmal ihren Vater.

Im Leben von Armanoush dagegen ist Geschichte der prägende Faktor: Ihre Grossmutter ist eine Überlebende des Völkermordes an den Armeniern. Das Geschehen von anno dazumal kann niemand in ihrer Familie vergessen.

So hat Armanoush gelernt, die Türken zu hassen. Doch dann beschliesst sie, in Istanbul das Haus ihrer Ahnen zu suchen - und landet bei Asya und ihrer Familie.

Schon früh ist klar: Die Familien von Armanoush sind tief verbunden, und der Schluss des Romans wird nichts weiter tun als diese Vergangenheit zu enthüllen. Man bräuchte also nur den Schluss zu lesen. Und doch lohnt sich die Lektüre des ganzen Buches. Weil Shafak alle Register zieht, um skurrile und liebenswerte Charaktere und ein ironisch-liebevolles Porträt der Stadt Istanbul zu zeichnen: Mal liest sich das Buch wie eine bitterböse Satire, mal wie ein entsetzlich trauriges Märchen.

Und der Schluss ist schockierender als man es sich ausgemalt hat.

13
Okt
2008

Sex ist gefährlich

Kennt Ihr den Slogan "weil ich es mir wert bin?" Klar kennt Ihr ihn. Schliesslich gibt es da eine Kosmetikfirma, die ihn uns so penetrant aufs Auge drückt, dass wir schon bald keinen Lidschatten mehr in die Hände nehmen können, ohne dabei unsere Locken zu schlenkern und zu hauchen: "Weil ich es mir wert bin..."

Ich habe den Slogan nie gemocht. Er ist sooo 90-er Jahre. Klingt so penetrant therapeutisch. So verdammt nach Frauen, die sich nach einem langen Nachmittag beim Shoppen voller Selbstmitleid (naja, shoppen ist wirklich nicht einach...) in den Spiegel schauen und sich zuhauchen: "Ach, ich bin ja so müüüüde! Ich muss mir jetzt etwas gutes tun!" Die genüsslich etwas zu viel von ihrem funkelneuen Wangenrouge auflegen. Und dann frisch gestärkt an die nächste Party sausen.

Doch lassen wir das, denn das wollt Ihr gar nicht wissen. Ihr wollt jetzt wissen, was dieser blöde Slogan mit Sex zu tun hat. Mit gefährlichem Sex.

Um es gleich klar und deutlich zu sagen: Er hat nichts mit Sex zu tun. Schon gar nichts mit gefährlichem Sex. Und genau das ist das Gute an dem Slogan. Jedenfalls glaubt das die Firma, die ihre Produkte mit ihm verkauft. Steht in dem Buch, das ich gerade lese. Es heisst The Culture Code und ist von einem Franko-Amerikaner namens Clotaire Rapaille.

Rapaille ist von Haus aus Psychologe. Er arbeitet aber für die Marketing-Abteilungen zahlreicher globaler Firmen. Seine These: Lernen ist mit Emotionen verbunden. Und: Was wir als Kleinkinder lernen, prägt unsere Wahrnehmung der Welt lebenslänglich. Mit seinen Befragungen drang er tief in die nur halb bewussten Erinnerungsschichten der Befragten und fand so heraus, was sie seit ihrer frühesten Kindheit mit Kaffee verbinden. Oder mit Jeeps.

Für die "Weil ich es mir wert bin"-Kosmetikfirma sollte er offenbar Schminke verkaufen. "Schminke?" sagte er sich. "Das hat doch etwas mit Verführung zu tun. Mit Sex." Also ging er hin und fragte die Menschen, die die Produkte der Firma kaufen sollten, was sie mit Sex verbinden. Er befragte Amerikanerinnen und Französinnen und er fand etwas Irritierendes heraus: Amerikaner fühlen sich nicht wohl mit dem Thema Verführung. Sie verwechseln Verführung mit Manipulation. Und, noch krasser: Für Amerikaner hat Sex a priori mit Gewalt zu tun. Für Amerikaner sind Sex und Verführung beunruhigende, ja verstörende Themen.

Also entschloss sich die "weil ich es mir wert bin"-Firma, das Thema Sex in der amerikanischen Make up-Werbung gar nicht erst aufs Tapet zu bringen.

Anders in Frankreich. Weil die französischen Konsumentinnen eine andere Einstellung zur Sexualität haben.

Tja, und was sollen wir deutschsprachigen Frauen daraus schliessen, dass wir am Fernsehen die amerikanischen Werbespots besagter Kosmetikfirma vorgesetzt bekommen?

Das sagt uns Herr Rapaille leider nicht. Dennoch: Das Buch ist ziemlich lesenswert. Auch wenn ich zu bezweifeln wage, dass seine Theorie über kulturelle Unterschiede in den heutigen Multi-Kulti-Gesellschaft (die medial so stark von den USA geprägt ist) wirklich funktioniert.

20
Sep
2008

Phantastischer Roman

Die Frogg verschlingt gerade den besten Roman, der ihr dieses Jahr zwischen die Finger gekommen ist Arthur & George von Julian Barnes. Deshalb mein langes Schweigen hier, für das ich um Verständnis bitte. Glücklicherweise ist der Schinken 505 Seiten fett, so dass ich auch morgen noch einen Rest habe, den ich mir einverleiben kann.

Wenn ich sage, "Arthur & George" sei ein phantastischer Roman, so will ich damit lediglich meine Begeisterung für das Buch zum Ausdruck bringen. Ich will nicht etwa glauben machen, es kämen darin weisse Einhörner, Hexen mit eisigen Herzen oder boshafte Zwerge vor. Nein. Das Buch erzählt von zwei Personen, die tatsächlich existiert haben: von George Edalji und Arthur Conan Doyle.

Barnes erfindet die Geschichte der beiden von Kindsbeinen an neu. Er bleibt dabei nahe bei der Realität und schreibt doch Fiktion im besten Sinne. Er lässt die Leser in die Haut der beiden schlüpfen. Bis sie selber für ein paar Stunden in Arthur Conan Doyle's kompliziertem Ehedreieck stecken - oder mit George Edalji im Gefängnis hocken. Edalji, der indischer Herkunft ist, wird nämlich angeklagt, Pferde verstümmelt zu haben - ein Justizirrtum aus Rassismus. Mit wie viel selbstauferlegter Gleichmut Edalji sein Schicksal meistert, zeigt Barnes mitfühlend und analytisch zugleich. Wie bigott, selbstgerecht und doch auch hübsch ländlich die Gesellschaft in seinem Great Wyreley ist, schildert er meisterhaft und mit einer Prise subtiler Ironie.

Es dauert etwa 300 Seiten, bis sich die beiden Helden des Buches zum ersten Mal begegnen und die Charakterstudie, das Sittengemälde, zum Krimi wird. Und doch möchte man keine Seite bis zu dieser Stelle missen. Zu dem Treffen kommt es schliesslich, als George sich mit einem Bittbrief an den Erfinder von Sherlock Holmes wendet. Doyle, soeben Witwer geworden und auf der verzweifelten Suche nach einem Fluchtweg aus seiner inneren Leere, kommt der Bitte nach. Er beginnt einen erbitterten Kampf gegen die Englische Gerichtbarkeit.

Den führt er in meiner Lektüre immer noch. Deshalb, sorry, Freunde: Ich muss weiter lesen.
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