auf reisen

10
Apr
2008

London: Der wilde Osten

Jetzt bin ich mit meiner London-Retrospektive immer noch nicht fertig. Ich muss doch noch vom wilden Osten der Riesenstadt erzählen! In den letzten 20 Jahren sind dort gewaltige Landflächen total umgekrempelt worden. Lagerhallen wurden zu Lofts. Bürotürme schossen in die Höhe. Aus alten Hafenbecken wurden Tummelplätze für die Boote der Betuchten. Man kann sich kaum noch vorstellen, wo hier die weniger gut Situierten wohnen (auch wenn es sie weiter gibt, aber das ist eine andere Geschichte).

Und der Umkrempelungsprozess ist keineswegs vorbei. Heute verläuft die Front der Erneuerung mitten durch Greenwich. Einen Brückenkopf städtischer Eleganz gibt es dort direkt an der Themse, rund um die Station der Docklands Light Railway. Dahinter aber erstreckt sich eine Wüste. Riesige Areale mit zerfallenen Fabriken; einsame Hochhäuser inmitten von Brachlandschaften aus Schutt und Scherben. Vor einigen dieser mit Wellblech umfriedeten Felder stehen Bautafeln: Hier entstehen neue Wohnparadiese für Gutbetuchte. Manchenorts sind sogar die Baukrane schon bereit.

Und dann taucht mitten in dieser Mondlandschaft eine Fata Morgana auf und leuchtet geheimnisvoll in allen Regenbogenfarben:

DSCN0643

Das Laban Centre, eine Schule für Modern Dance, ein Bau der Architekten Herzog & de Meuron. Es war Veronikas Idee gewesen, dorthinzugehen. Der Anblick war surrealer Höhepunkt unserer London-Reise. Wer sich für Stadtentwicklung interessiert, sollte es uns nachtun und hingehen.

Er muss sich aber auf einiges gefasst machen: Als wir am frühen Abend durch ein von Wellblech gesäumtes Strässchen zum Gebäude gehen wollten, wurden wir von Polizisten aufgehalten: Sie jagten gerade ein paar Jugendliche, die ins verlassene Fabrikareal nebenan eingebrochen waren.

Als wir uns spätabends auf den Rückweg zur Bahnstation machten, war uns zwei Frauen die Gegend plötzlich gar nicht mehr geheuer. Am nächsten Abend bestätigte uns mein alter Kumpel Eagle Nose unseren Verdacht, dass die Gegend ziemlich rau ist. Er hat dort in jungen Jahren als Betriebsleiter einer Bäckerei gearbeitet - offenbar mit ziemlich schwierigen Burschen.

(Aus meinen Notizen vom 14. und 15. März 08)

2
Apr
2008

Kaffeerausch in London

"Ach, hier will uns wieder mal jemand erzählen, wie schlecht der Kaffee in London ist!" habt Ihr gedacht, als Ihr diesen Titel gelesen habt. Nicht wahr? Aber weit gefehlt. Ich werde genau das Gegenteil behaupten: In London kann man heute richtig guten italienischen Espresso trinken! Glaubt mir, ich kann die Qualität von Kaffee neuerdings gut beurteilen, ich habe nämlich im letzten Herbst einen Kaffee-Entzug gemacht. Aus gesundheitlichen Gründen (Meniere-Kranke sollten keinen Kaffee trinken, habe ich irgendwo gelesen). Nun, der Entzug war kein Sonntagsspaziergang, aber er hat sich gelohnt: Seither trinke ich Kaffee nicht mehr dröge am Morgen, um überhaupt wach zu werden. Nein, ich gönne mir ein- oder zweimal die Woche nachmittags einen Espresso mit Zucker als Genussmittel. Aber nur dort, wo ich auch guten Kaffee bekomme!

Denn von gutem Kaffee bekomme ich jetzt ganz wunderbare Kaffeeräusche! Habe ich Kaffee getrunken, bin ich glücklich, inspiriert und jeder schöne Anblick fährt mir ein, als wäre ich manisch depressiv und gerade auf einem Hoch. Von einem doppelten Espresso mit Zucker bekomme ich gar einen Schwips, der jenem von zwei kleinen Gläsern Wodka nicht unähnlich ist (und das will etwas heissen, denn früher hat die Frogg immer behauptet, die besten Räusche bekomme man von genau zwei kleinen Gläsern Wodka).

Einen richtig guten doppelten Espresso trank ich an unserem zweiten Tag an der King's Road im Londoner Nobelviertel Chelsea. Seine Wirkung machte sich bereits bemerkbar, als Veronika und ich das Café verliessen und ins eher weniger gut situierte East End weiter wollten. Ich war bei bester Laune. "Nehmen wir den Bus?" fragte ich, zu einem Experiment aufgelegt. Und wir hatten auch noch unanständig viel Glück: Wie von Geisterhand gesteuert trudelte ein solcher Bus aus Westen die King's Road herauf:


(Bild geklaut von www.countrybus.org)

Ja, richtig, der Bus No. 11 fährt von der King's Road aus direkt nach Osten, und vor allem: Er fährt auf dem Weg dorthin mitten durch das Herz von London: durch die Whitehall, vorbei am Trafalgar Square, durch den Strand und die Fleet Street, vorbei an der St. Paul's Cathedral und ungefähr bis zum noch neuen, aber schon berühmten "Gherkin"* der Swiss Re von Norman Foster. Der Bus No. 11 sei jedem London-Anfänger als Einstieg empfohlen! Und wir fanden erst noch ein gutes Plätzchen zuvorderst im oberen Stock des Doubledeckers. Von dort aus bestaunten wir die zu einem bizarren orientalischen Tempel gewordenen roten Ziegel der Westminster Cathedral. Und sahen in der Ferne die Statue von Admiral Nelson in Regen und Nebel strammstehen. Kurvten am edlen Hotel Waldorf vorbei und riefen "aaah!", als in der Ferne die Renaissance-Kathedrale mit der grossen Kuppel zu sehen war - mit den Hochhäusern der City als Hintergrund. Weiss Gott, ich bin schon ein paarmal in London gewesen und habe viel von der Stadt gesehen. Aber diese Fahrt und der Kaffee machten mich rasend vor Begeisterung.

Leider konnte ich das alles nicht fotografieren, dazu regnete es zu sehr. Statt dessen hier die Londoner City vom Südufer der Themse her gesehen (die Swiss-Re-Gurke ganz rechts im Bild).

DSCN0647
(Der London-Reise zweiter Tag, 14. März 08)

* Gürkchen

1
Apr
2008

Wem der Big Ben schlägt

Als wir nach unserem Spaziergang durch die Parks von London endlich beim Big Ben ankamen, schlug er gerade vier Uhr. Oder war es fünf? Ich wollte schnell auf meiner Armbanduhr nachsehen, aber... meine Armbanduhr war weg.

Meine schöne Armbanduhr! Die Uhr, die mir meine Eltern zum 40. Geburtstag geschenkt hatten. Schlicht, elegant und nicht ganz billig. Jene Uhr, auf die ich stets mit einer Selbstzufriedenheit geguckt hatte wie nur gut situierte Menschen sie verströmen. Jene Uhr, die ich noch vor wenigen Stunden im Flugzeug eine Stunde zurückgestellt hatte. Wegen der Zeitverschiebung in England. Die Uhr, deren Verschluss schon immer ein wenig zu locker gesessen hatte.

Sie musste mir im Hyde Park unbemerkt von Arm gerutscht sein. Oder vor dem Buckingham Palace. Oder im St. James' Park, bei den ersten Osterglocken und Blue Bells.

In jenem Moment merkte ich, dass ich zuvor gar nicht gewusst hatte, wie glücklich ich gewesen war.

DSCN0609

(Der London-Retrospektive erster Teil, Tagebuchnotizen vom 13. März 08)

24
Mrz
2008

Ostern im Tessin

arosio08

Ostersonntag, 23. März 08, 12.06 Uhr zwischen Arosio und Cademario. Solltet Ihr irgendwo Bilder von Kamelienblüten unter blauem Himmel gesehen haben: Lasst Euch nicht täuschen! Es war saukalt.

21
Mrz
2008

Das Suppendosen-Rätsel



Collage von Adolf Wölfli, entstanden 1929. Gestern gesehen im Kunstmuseum Bern.

Ich nehme nicht an, dass Andy Warhol von Wölfli gewusst hat, als er 1962 seine Bilder von Campbell's Suppendosen machte. Das wirft die Frage auf: Was macht nur diese Suppendosen so reizvoll?!

11
Mrz
2008

Gotthard zum Abschied

Mein Göttibub Tim wird mir immer sympathischer. Ja, klar, es ist nichts Aussergewöhnliches, dass man sein Patenkind mag. Aber das mit Tim geht tiefer: Ich habe entdeckt, dass wir eine Obsession teilen. Die Gotthard-Obsession. Tim weiss zwar noch nicht, dass er eine Gotthard-Obsession hat. Er ist ja erst 3, genau 3 sogar. Ich aber erkenne eine Gotthard-Obsession schon im Keim. Schliesslich hat meine Begeisterung für den Pass der Pässe mich dazu gebracht, ihn anno 2003 in einer dreitätigen, strapaziösen Wanderung zu überqueren. Und so erkannte ich den Keim von Tims Gotthard-Obsession, als ich ihn heute Nachmittag zum Geburtstag zum ersten Mal ins Verkehrshaus Luzern gebracht habe. Das Verkehrshaus gehört hierzulande zum Göttibubenprogramm, und ich habe beschlossen, nicht zu lange damit zu warten.

Dass er auf Züge steht, weiss ich schon lange. Denn wann immer er irgendwo auch nur Schienen sieht, sagt er, laut und deutlich „Tschütschübahn“*. Wenn er in Frogg Hall auf Besuch ist, dann sagt er irgendwann „Tschütschübahn luege“**, und dann weiss man: Jetzt muss man ihn zum Dachfenster hochheben, damit er die Züge sehen kann, die weit drüben am Hang vorbeidonnern.

Klar, dass ihn die vielen Züge im Verkehrshaus begeisterten. Er sah sich alle an. Gründlich. Drückte alle Knöpfe. Am längsten aber sah er das wohnzimmergrosse Modell der Gotthardbahn mitsamt Kirche von Wassen an. Er bliebt dort sage und schreibe ein Viertelstunde lang stehen. Eine Ewigkeit für einen Dreijährigen. Er kreischte, wenn wieder irgendwo aus einem Tunnel ein Zug auftauchte. Kreischte lauter, wenn zwei Züge sich kreuzten. Es war eine richtige Freude! Jetzt weiss ich schon, was ich ihm zu seinem achten oder zehnten Geburtstag schenken werde: eine Fahrt durch den echten Gotthardtunnel, den alten, mitsamt Kehrtunnels und allem drum und dran. Ich fürchte, ich werde mich dann benehmen wie Emil Steinberger im Zug. Und wenn Herr T. auch dabei ist, werden wir uns sogar benehmen wie zweimal Emil.

Wenn der alte Gotthardtunnel dann überhaupt noch befahren wird. Denn schliesslich gibt es ja bald einen Neat-Tunnel durch den Gotthard, und der sticht schon bei Amsteg fadengerade in den Berg. Dann heisst es ade, Kirchlein von Wassen.

Jesses, da fällt mir ein: Bestimmt wissen viele von Euch gar nicht, was es mit dem Gotthard, seiner Bahn und dem Kirchlein von Wassen überhaupt auf sich hat. Tja, da bleibt mir nichts anderes übrig, als Euch hier erstmals in geordneter Form alle Links zu meinem Gotthard-Epos zu präsentieren: jener losen Sammlung von Texten, in denen ich über meine Gotthardüberquerung zu Fuss berichte.

Das ist ein Abschiedsgeschenk, denn am Donnerstag fliege ich für ein paar Tage nach London, und ich schreibe wohl hier nicht vor dem nächsten Dienstag wieder. Aber mit dem Zeug hier habt Ihr, weiss Gott, genug zu lesen!

1) Einführung mit geradezu hellseherisches Wirtschaftsanalyse

2) Was ist eine Gotthard-Obsession?

3) Uri im Frühsommer 2003

4) Amsteg im Dämmerlicht

5) Wurstsalat in Gurtnellen

6) Die Kehrtunnels von Wassen

7) Das Geisterhaus von Göschenen

8) Heilige Schweizer Erde

9) Total erschöpft kurz vor dem Ziel

10) die Tremola, das Tessin

*Kinderwort für "Eisenbahn"
** "Eisenbahn anschauen"

25
Feb
2008

Süssstoff

Manche Leute gehen für ihre Gesundheit unglaubliche Kompromisse ein. Zum Beispiel dieser ältere Mann, der neulich im Bahnhofrestaurant resolut folgende Bestellung aufgab: "Bitte ein Kafi Träsch ohne Zucker, dafür aber mit vier Assugrin."

24
Feb
2008

Mysteriöser Steinschlag

Mein Zug nach Basel SBB hatte 35 Minuten Verspätung. Oder noch mehr, und er war gestern Abend der letzte, der mich von Frankfurt am Main zurück in die Schweiz bringen konnte. Ursache seiner Verspätung war ein Steinschlag, hiess es. Naja, dafür hat man Verständnis. Wenn Steine auf den Gleisen liegen, dann muss so ein Zug doch halten, dachte ich. Ich wartete ohne Begleitung. Meinem Kumpel English hatte ich tschüss gesagt.

Im Bahnhof herrschten chaotische Zustände. In der allgemeinen Verwirrung stieg Madame Frogg sogar in einen Intercity nach Ostberlin. Ich bemerkte meinen Fehler im letzten Moment und konnte gerade noch aussteigen. Mit klopfenden Herzen stand ich da und sah die grossen, traurigen Wälder von Ostdeutschland vor mir, sah den Himmel über dem Frankfurter Bahnhof dunkel werden. Ich begann mir Sorgen zu machen. Wo sollte ich übernachten, falls mein Intercity nicht käme? Nicht bei English. English war längst im Kino und hat kein Handy.

Als mein Zug dann doch noch kam, war ich so erleichtert, dass ich der Deutschen Bahn sofort verzieh und beglückt einsteigen wollte. Doch mein Hochgefühl verflog, als ich den Waggon 3 verschlossen vorfand. Im Waggon 3 hatte ich nämlich einen Sitzplatz reserviert, und ich wollte diesen Sitzplatz, weil… nein, es würde zu weit führen, das jetzt zu erklären. Jedenfalls war der Waggon 3 wegen Steinschlags geschlossen, sagte der Schaffner. Ich musste mir im Waggon 2 einen Sitzplatz suchen. Was auch gelang, denn am späteren Samstagabend fährt zum Glück fast niemand ICE.

Als der Schaffner dann meine Fahrkarte kontrollierte, hatte ich einen merkwürdigen Dialog mit ihm.
Ich: „Wo war denn dieser Steinschlag?“
Er: „Im Waggon 3.“
Ich: „Ja, ja, das habe ich mitbekommen. Aber wo in Deutschland, meine ich,“
Er: „Ach so. Der Steinschlag war in Fulda!“
Ich: „Und was ist denn mit dem Waggon 3? Ich meine: Ich habe dort einen reservierten Platz…“
Er (grinsend): „Ja, da bleiben Sie mal besser hier!“
Ich: „Ähh…“
(Schaffner eilig ab).

Klar, dass ich beim Aussteigen in Basel einen langen, aufmerksamen Blick in den Waggon 3 warf. Die Frogg verspürte voyeuristische Lust darauf, Kraterlöcher zu sehen, vielleicht eine zersplitterte Scheibe oder einen staubigen Brocken auf Sitz 83. Aber nichts dergleichen. Was ich von Waggon 3 sah, war still, finster und vollkommen intakt.

Zu Hause angekommen, schlug ich Fulda im Atlas nach. Ich sah dort keine steinschlagverdächtigen Berge. Dann googelte ich „Fulda“ und „Steinschlag“. Wieder nichts. Auch technorati.com gab mir keinerlei Suchergebnisse.

Was war da geschehen?

1
Jan
2008

Abschied von 2007

Eigentlich gehört dieser Eintrag zum alten Jahr. Eigentlich hätte er in mein Griechenland-Epos vom letzten Sommer gehört. Aber ich habe das Epos ja dann doch nicht geschrieben, aus verschiedenen Gründen. Jetzt schreibe ich wenigstens noch dieses eine Kapitel davon – als endgültigen Abschied vom Jahr 2007. Und weil ich den Text meinem geschätzten Leser, dem Schallplattenfreund, versprochen habe. Hier ist er:

Ich habe Athen nie gemocht. Immer ähnelte mir die Stadt entweder zu sehr einem orientalischen Moloch oder zu sehr einem balkanischen Kaff. Immer und überall waren mir die Strassen in Athen zu schäbig und die Hotels zu schmuddelig. Auch dass Athen die Hauptstadt jenes Landes ist, das die Odyssee, die Olympiade, die Tragödie und die Komödie erfunden hat, wiegt diese Abneigung nicht auf.

Mein schlimmster Aufenthalt in Athen dauerte schier unerträgliche vier oder fünf Tage. Er war der Tiefpunkt einer Reise, für die die Frogg im Sommer 2007, rückblickend, plötzlich die richtige Bezeichnung fand: eine qualvolle Odyssee. Vielleicht liegt es einfach an dieser einen Reise, dass ich Athen nicht mag. Sie begann im Sommer 1986 in England. Ich hatte ein Jahr lang in Sussex in einem Kinderheim gearbeitet, hatte endlich Ferien und wollte dringend nach Hause. Vielleicht vor allem deshalb, weil ich nicht mehr so sicher wusste, wo zu Hause war. Klar. Im Haus meiner Eltern. Aber nur noch vorläufig. Ich war 21 und wollte weg von dort. Ich wollte studieren. Ich wollte endlich mein Erwachsenenleben beginnen.

Erst aber musste ich meine Jugendliebe Guido in Israel abholen. So hatten wir es abgemacht, ein Jahr zuvor, als er zum Theologiestudium nach Jerusalem aufgebrochen war. Unterdessen liebte die Frogg zwar längst einen anderen. English. Aber das war eine aussichtslose Geschichte. So aussichtslos, dass es sich nicht gelohnt hätte, es Guido in einem Brief zu beichten. Also buchte sie in Tunbridge Wells einen Flug nach Tel Aviv.

Am Abend vor ihrer Abreise fuhr sie nach London und ging dort ins Kino. Sie sah sich ausgerechnet den Film Sid & Nancy an. Danach nahm sie einen Zug nach Gatwick und legte sich auf eine Wartebank im Flughafen. In der schlaflosen Nacht dort dröhnte ihr nicht etwa die Punkmusik aus dem Film im Kopf herum. Nein, sie sah ständig die Bilder von jenem elenden Hotelkeller in New York, in dem Sid und Nancy die Zeit vor ihrem Tod verbrachten und weder von einander, noch vom Heroin loskamen. Na, da bin ich ja auf dieser Bank noch gut dran, sagte sie sich tapfer. Und in Israel wartet ein hübsches Studentenzimmer auf mich.

So war es auch tatsächlich. Ironie des Schicksals war nur, dass die Frogg sich wenige Wochen später in einem Hotelzimmer wiederfand, das puncto Elend dem New Yorker Zimmer von Sid und Nancy ernsthaft Konkurrenz machte: in Athen. Schuld war Guido. Denn er wollte sich nicht mit zwei Wochen Ferien begnügen, in denen er der Frogg Israel von hinten und vorne zeigte und an deren Ende er mit ihr ins Flugzeug nach Zürich gestiegen wäre. Nein. Er wollte mit dem Schiff nach Hause. Übers Mittelmeer. Von Tel Aviv bis nach Ancona. Mit Zwischenhalt in Athen. Und die Frogg reiste brav mit.

Bis, eben, nach Athen, wo gerade die Touristen-Hochsaison im Gange war und es kaum noch zahlbare Unterkünfte gab. Dort, in einem Kellerzimmer mit fünf Betten beim Omonia-Platz, hatte die Frogg ihre Krise. Sie beichtete Guido, dass sie eigentlich nur seinetwegen in diesem schäbigen Kaff war. Dass sie einen anderen liebte. Und dass sie nur noch nach Hause wollte, endlich ihr richtiges, ihr eigenes Leben beginnen.

Mein eigenes Leben. Aber was ist das für ein Leben geworden, fragte ich mich im Sommer 2007. Eine verzweifelte Frage, denn ich war mit meinem Leben nicht zufrieden. Inzwischen ist mir die Frage nicht mehr so wichtig. Ich versuche einfach das Beste aus dem zu machen, was mir noch bleibt. Hier und jetzt. Es gelingt erstaunlich oft.

In Athen aber, in jenem düsteren Hotelkeller, endete 1986 die Liebe zwischen Guido und mir. Oder wir hörten zumindest auf, uns an sie zu klammern. Faktisch endete sie erst ein halbes Jahr später, als wir endlich den Weg zurück in die Schweiz und unsere Plätze an zwei verschiedenen Unis gefunden hatten.

Ja, und auch das muss noch gesagt, sein, wenn wir schon vom Jahr 2007 reden: Guidos grosse Odyssee (ich bin mir sicher, dass es eine war) endete im Spätsommer 2007. Er starb auf einem Campingplatz im Tal M. den plötzlichen Herztod. Er war erst 46.

Geschätzter Schallplattenfreund: Dies hätte ein lustigerer Eintrag werden sollen. Ich habe mich hier offenbar total verspekuliert. Sorry.

16
Nov
2007

Romantische Streikgeschichte

Jungen Leuten gegenüber wird die Frogg allmählich wie ihre Grossmutter. Sie redet gern von ihren Jugendabenteuern und verzapft dazu in abgeklärtem Ton allerhand Lebensweisheiten.

„Ach weisst Du“, sagt sie im Büro zur Praktikantin Lea, die die Eisenbahnerstreiks in Deutschland gerade ziemlich happig findet: „Für viele ist sowas doch total aufregend. Die werden noch ihren Enkelkindern vom grossen Streik erzählen.“
Dann gibt auch die Frogg ihre grosse Streikgeschichte von anno dazumal zum besten. Es ist eine romantische Geschichte. Ich widme sie hier allen Streikgeplagten.

„Es war in Italien, anno 1984“ erzählt die Frogg, „Die Frogg war 19 und auf Maturareise mit ihrer Klasse. In Italien. In Lucca. Nach vier Tagen fuhr die Klasse nach Hause. Die Frogg aber blieb noch eine Nacht, denn sie wollte weiter nach Korsika. Sie hatte sich mit einem Kollegen namens Stanley in Livorno verabredet. Um 8 Uhr morgens. Nun begab es sich, dass gerade Eisenbahnerstreik war in Italien – und natürlich konnte am Bahnhof niemand sagen, ob die Frühmorgenzüge nach Livorno fahren würden. Stanley war telefonisch nicht mehr zu erreichen (es gab noch keine Handys). Also hüpfte die Frogg um vier Uhr morgens aus den Federn und begab sich auf den Bahnhof (wenig Schlaf und – noch besser – wenig Essen gehörten damals zu den unabdingbaren Ingredienzen eines froggschen Reiseabenteuers).

Auf dem Bahnhof standen ein paar Leute, aber kein Zug. Die Frogg beschloss, sich durchzuradebrechen. Sie hatte im Gymnasium ein Jahr Italienisch gehabt und betrachtete sich als Sprachtalent. Sie begann herumzufragen. Tatsächlich geriet sie an einen übernächtigten Mann mit Stoppelbart, einen Seemann. Ich meine mich zu erinnern, er habe einen Streifenpullover getragen. Der Seemann nahm die Frogg zu einem Zug auf einem Abstellgleis mit, schnorrte ein bisschen mit den Leuten dort und sagte dann, ja, dieser Zug fahre nach Livorno. Das Abteil, in dem die Frogg mit dem Seemann stieg, war leer. Der Frogg war die Sache nicht ganz geheuer. Aber sie blieb sitzen."

„Sollen wir jetzt weghören?“ fragte an dieser Stelle Kollege Fröhlich von dem Männerschreibtisch nebenan. Die Frogg errötete und erzählte weiter, denn jetzt kam der grosse Moment: "Weil der Seemann nicht wusste, was er sonst mit der Frogg reden sollte, begann er Gedichte zu rezitieren. An viel erinnere ich mich nicht mehr. Aber da war dieses Gedicht, in dem immer wieder das Wort „piove“ fällt, „es regnet“. Noch heute höre ich den hageren Mann mit dem Stoppelbart „piove“ wiederholen, „piove“, mit seiner sonoren Stimme, „piove“, total rhapsodisch, "piove", in diesem holpernden Zug ohne sicheres Ziel.

Wir fuhren zusammen bis nach Livorno. Dort ging er in die Bahnhofbar und bestellte Kaffee mit Eierlikör. Ich machte mich auf die Suche nach Stanley.“

Ein paarmal habe ich das Gedicht gesucht. Der Seeman hat gesagt, es sei von Gabriele dAnnunzio. Gestern bin ich endlich auf die Idee gekommen, es zu googeln.

Hier ist es.
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

Mai 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04
Lieber Herr Steppenhund,
Vielen Dank für diesen mitfühlenden Kommentar. Über...
diefrogg - 4. Jan, 15:50
Schlimm und Mitgefühl
Zum Job kann ich nichts sagen. Gibt es überhaupt keine...
steppenhund - 31. Dez, 04:38

Status

Online seit 7533 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 11. Jan, 15:20

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
development