18
Jan
2014

Zärtlichkeit

Geschäftsessen in stilvollem Ambiente. Kollege Launig, Chef der anderen Abteilung, hat das alles organisiert und kümmert sich liebevoll um das Wohl der Gäste. "Gehts Dir gut Fröschli?" fragt er mich, als wir mit Essen und Wein wohl versorgt sind.

"Wunderbar", kann ich gerade noch sagen, bevor Wanda einwirft: "He, Sepp, wie nennst Du Monika?!" Ihre Stimme hat einen Anflug von Verblüfftheit, aus der auch Missbilligung werden könnte. Sie hat ein spitzes Gesicht mit einem Hunger drin, den kein gutes Essen je stillen wird.

"Er nennt mich Fröschli", sage ich lächelnd, "Das macht er seit 1995."

Plötzlich bin ich wieder in jenem Grossraumbüro, in dem ich meine ersten redaktionellen Arbeiten für eine dem Untergang geweihte Zeitung verrichtetete. Wenn ich aufblickte, sah ich den Rücken von Launig. Er wand sich auf seinem Bürostuhl, schnauzte ab und zu jemanden an oder warf aufstöhnend einen Gegenstand auf den Tisch. Er war dabei, eine seiner legendären Kolumnen zu gebären.

Seither habe ich in all den Jahren höchstens 20 Sätze mit ihm gewechselt. Er nannte mich immer Fröschli. Als ich noch jung und ehrgeizig war, habe ich mir ein- oder zweimal überlegt, wie ich es ihm austreiben könnte. Aber irgendwie kam die richtige Gelegenheit dann doch nie.

Jetzt erkenne ich es als Ausdruck einer Zärtlichkeit wie ich sie schon ein paarmal unter langjährigen Berufskollegen beobachtet habe - auch wenn sie sich nicht besonders nahe stehen. Sie beruht auf einem uralten Wissen, das sie über einander haben. Manchmal - aber nicht nur - kommt sie unter dem Einfluss einer moderaten Menge Alkohol sehr berührend zum Tragen.

Aber das kann ich Wanda nicht erklären. Und es liegt nicht einmal daran, dass sie keinen Wein trinkt.

11
Jan
2014

Buchtipp

Eben ist dieses Buch endlich auf Deutsch herausgekommen. Die Übersetzung soll ausgezeichnet sein, stand im "Tages-Anzeiger". Das kann ich leider nicht beurteilen. Ich habe das englische Original gelesen.

Dennoch empfehle ich das Buch unbedingt, auch wenn ich einen Kritikpunkt habe. Ich habe es selber wie im Rausch gelesen - nach kleinen Anfangsschwierigkeiten, zugegeben. Alles an diesen Geschichten ist verknappt, komprimiert, fragmentarisch. Da steigt man nicht ein wie in einen 0815-Roman.

Vielleicht habe ich es nicht zuletzt deshalb so gemocht, weil es im Grunde über mich ist. Nun gut, es spielt in London - und zwar abseits der Touristenströme, in Kilburn, im wilden Nordwesten der Grossstadt. Dort, wo die Postleitzahlen mit NW beginnen eben. Wo viele Migranten leben. Aber zwei der Hauptfiguren sind Frauen, in denen ich mich ständig wiedererkannte.

Da ist Leah, das rothaarige Mädchen mit dem kleinbürgerlichen Hintergrund. Sie ist clever genug, um an die Uni zu gehen. Aber eigentlich weiss sie nicht, was sie dort mit sich anfangen soll - und wählt als Studienfach das in ihren Augen geringste Übel: Philosophie. Wir lernen sie kennen, als sie längst wieder nach Kilburn zurückgekehrt ist. Sie hat einen frustrierenden Job und ist verheiratet. Ihr Mann ist sexy, aber sonst stinkbieder. Geld ist wenig da. Sie kifft viel. Und sie tut merkwürdige Dinge, um nicht schwanger zu werden. Aber warum?

Leahs beste Freundin seit Kindertagen ist Natalie. Das heisst: Als Kind hiess sie Keisha. Im Unterschied zu Leah strotzt sie vor Zielbewusstsein. Sie kommt aus der afrokaribischen Unterschicht, und sie kämpft sich durch das britische Klassensystem nach oben: Sie wird Anwältin, ändert ihren Namen, heiratet einen Banker aus privilegiertem Hause, hat zwei Kinder. Aber dann steht sie da in ihrer Villa am schicken Ende von Kilburn und erkennt sich selber nicht wieder.

Das Buch fängt grossartig den Sound, die Sprache von London ein. Es beschreibt wunderbar die Beziehung, das Wesen und die Perspektiven der beiden Frauen. Auch das gesellschaftliche Klima rundum und die Malaise der beiden. Doch woher kommt Leahs Pessimismus, woher Natalies Selbstverlust? Die Erklärungsversuche im Buch greifen zu kurz (auch wenn sie hier sehr gut nachgezeichnet werden). Da fehlt mir im Buch etwas. Das ist mein Vorbehalt.

Vielleicht macht uns Smith eben doch nicht ganz nachvollziehbar, was es heisst, an einem Ort wie Kilburn aufzuwachsen.

Nun wüsstet Ihr gern, warum ich mich in diesen Figuren wiedererkannt habe. Aber da müsst Ihr jetzt selber raten.

Zadie Smith: London NW. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.

8
Jan
2014

Kleine Mädchen und die Ökonomie

Lego ist wieder da! Und wie! Zu Weihnachten bekam mein Gottenbub Tim (8) zwei Bausätze des Spielzeugriesen für eine Eisenbahn. Und meine Nichte Carina (8) steht ja so auf Lego Friends!



Für alle Nichtkenner: Lego Friends ist eine Linie für kleine Mädchen. Sind die Teile einmal zusammengesetzt, bedienen sie die allerpeinlichsten Girlie-Klischees. Pink dominiert. Es gibt fünf Freundinnen - und natürlich Pferde. Und man kann beim Spielen ohne Ende Frisuren, Accessoires und Schminkzeug herumschieben.

Carina besitzt schon vier oder fünf Friends-Bausätze. Lego muss boomen.

Wir spielten ein bisschen. Doch nach fünf Minuten hatte ich genug Frisuren umplatziert. Ich sehnte mich nach den guten, alten Lego, mit denen schon mein Bruder und ich gespielt hatten. Damals gab es multifunktionale Bausteine, mit denen sogar ich gerne Häuschen mauerte. Zum Spielen brauchte es dann einfach Phantasie. Mit diesem alten Steinen haben auch Carina und ich schon köstliche Stunden verbracht.

Aber eben. Heute macht man nicht mehr genügend Rendite mit Spielsachen, die zwei Generationen lang halten.

Wohl gerade der Zeitlosigkeit ihrer Produkte wegen kriselte Lego vor einer Weile. Ich erinnere mich noch gut an die langen Gesichter in unserer Region, als das Unternehmen 2005 seine Fabriken in Willisau und Steinhausen schloss. Sogar das Schweizer Fernsehen berichtete darüber. Das dänische Unternehmen verlegte ganze Produktionsketten nach Tschechien.

Und man kam weg von der Multifunktionalität. Damit Brüderlein und Schwesterlein derselben Generation gleich zweimal Lego brauchen, fabriziert man Mädchen-Spielzeug und Buben-Spielzeug. Pink für Mädchen. Eisenbahnen für Buben. Jetzt schreibt die Firma Rekordgewinne.

Ich finde es zwar gut, dass die Lego-Arbeiter in Tschechien Arbeit haben. Und doch jagt mir diese rosarote Wolke im Mädchenzimmer den kalten Schauer über den Rücken. Da werden Mädchen - und Buben - stereotype Rollenbilder geradezu aufgedrängt. Res Strehle, Ökonom und heute Chefredaktor des Tages-Anzeigers, hat solche Entwicklungen schon 1994 in diesem Buch* prognostiziert:

Im Kapitel "Das schlanke Patriarchat - Neuauflage des Sexismus" steht:"Der 'Sieg' der Marktwirtschaft und ihr Vordringen in neue Bereiche haben dazu geführt, dass den Frauen zugeschriebene Eigenschaften mit neuer Konsequenz vermerktet werden. 'Frauenspezifisches Marketing' heisst das Schlagwort, ... dazu gehört das handliche Kleinauto ('Panda') genauso wie das Light-Bier in der gestylten Flasche. Frau selber wird via Markt mit ihren angeblich frauenspezifischen Eigenschaften radikal in Wert gesetzt ..." (Seite 73 -4).

Soweit so gut. Nur: Wird das unseren geliebten, kleinen Mädchen dereinst im Erwachsenenleben schaden? Ja und nein, sagt Strehle. Frauen könnten innerhalb dieser Rollenklischees durchaus in Top-Positionen aufsteigen: "... als für die emotionale Stabilisierung des Personals zuständige Personalchefin, als für das Wohlbefinden der Medien verantwortliche Pressechefin" (S. 74).

Diese Vision finde ich jetzt nicht ganz so negativ wie Herr Strehle. Wichtig ist ja, dass Frauen die Option haben, in der Arbeitswelt gutes Geld zu verdienen - und durch ihre Arbeit auch neue Rollenbilder zu schaffen.

Und doch. Buben Eisenbahnen, Mädchen pink? Kann so reale Gleichheit entstehen?

*Res Strehle: "Wenn die Netze reissen - Marktwirtschaft auf freier Wildbahn" ; Zürich : Rotpunktverlag 1994 (und ein Dankeschön an den Kulturflaneur, der mich an das Buch erinnert hat)

4
Jan
2014

Schwindel

Am Silvesterabend hatte ich einen Schwindelanfall. Nichts Schlimmes. Etwa Stufe drei auf meiner achtstufigen Richterskala der Meniere-Schwindelanfälle. Am nächsten Morgen hatte ich ihn vergessen, war etwas verkatert und schrieb einen larmoyanten Neujahrs-Blogbeitrag.

Ich möchte auch nicht nachträglich klagen. Es geht mir hier nur darum, präzis zu beschreiben, wie es war.

Es passierte nach einem gemütlichen Abendessen bei Freunden. Wir waren zu viert, vertraute Bekannte, bei denen ich mich wohl fühle. Dann tat sich plötzlich Leere unter meinem Kopf auf. Es gibt diese zarte Stelle unter dem Rand des Schädels, genau da, wo sich hinter den Ohren der Schädelknochen leicht anhebt.



Kurz bevor Os temporale und Os occipitale aufeinander treffen.

Wenn man seine Finger fest auf die Stelle drückt, kann man seinen Puls spüren. Beim Meniere-Schwindel ist es, als würde dort das Gerüst aus Schwerkraft und Muskelspannung einstürzen, das den Kopf an seinem Platz hält. Man denkt nie an dieses Gerüst. Aber wehe, wenn es fällt! Dann gehen unfassbare Abgründe auf.

Wenn das Konstrukt nur an dieser Stelle einstürzt, kann ich damit umgehen. Ich kann meinem Rückgrat befehlen, gerade zu bleiben. Wenn ich stehe, kann ich mich irgendwo festhalten. Ich kann das Gleichgewicht in den Füssen und den Hüften suchen statt im Kopf. Ich hatte einen solchen Schwindelanfall letzten Herbst, als der Zahnart an meinem Gebiss herumschliff. Mein Kopf verweigerte den Dienst an der Schleifmaschine. Nur mein eiserner Wille konnte ihn halten.

An Silvester musste ich mich nicht sehr anstrengen. Der Schwindelanfall zog vorüber und kam nicht wieder.

Hatte ich zu viel getrunken? Ich glaube nicht. Ich war wohl so bei meinem vierten Glas Wein in drei Stunden. Von dieser Menge bekomme ich normalerweise keinen Schwindelanfall. Aber vielleicht forderte die ausdauernde weihnachtliche Fehlernährung mit Alkohol und Süssigkeiten ihren Tribut. Vielleicht war meinem System der hochfrequente Wechsel zwischen Familienfeierlichkeiten und dem Büro zu viel geworden.

Jedenfalls spinnen meine Ohren seither wieder. Hinter meinen Gehörgängen kleben Kugeln aus elektrisch geladenem Filz. Wenn Schall auf sie trifft, franst er aus.

1
Jan
2014

Neujahrsvorsatz

Beim Bloggen bin ich eine Schreiberin - keine Leserin und schon gar keine Vernetzerin. "Ich schreibe, also bin ich", lautete bislang stets meine Devise. Ich gebe zu: Ich habe den Grundgedanken des Bloggens willentlich nicht begriffen. Von ein paar Leuten gelesen zu werden, reichte mir. Der eine oder andere Kommentar reichte mir. Andere Blogs las ich nebenher in einer freien Minute. Kommentieren? Eher selten. Stöckchen und Freitagstexter und solcherlei? Das hätte mich alles nur von dem abgelenkt, was ich zu sagen hatte.

Wenn ich mir das so überlege, denn wird mir klar, wie viel ich von meinen Leserinnen und Lesern in all diesen Jahren bekommen habe. Unglaublich viel!

Aber zurzeit weiss ich nicht so recht, ob ich immer noch etwas zu sagen habe.

Ist dieser Blog alt und müde? Oder bin nur ich es? Habe ich nur eine uninspirierte Phase? Soll ich etwas anderes machen? Aber was?

Ich klickte mich ein bisschen durch meine Blogroll und entdeckte eine Menge Neues. Herrn shhh und lamamma angestossene Diskussion übers Vernetzen von Blogs. Merkwürdig. Spannend. Oder ein Gedicht von tinius mit einer Diskussion, die genau meine derzeitigen Fragen ans Bloggen auf den Punkt bringt.

Ich glaube, ich sollte im Neuen Jahr mehr Blogs lesen. Und mehr kommentieren.

In diesem Sinne wünsche ich Euch ein inspiriertes Neues Jahr - ohne Vernetzungszwang aber mit vielen glücklichen virtuellen Begegnungen.
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