14
Dez
2013

Gegen die Ostalgie

Neulich kam ich in Zürich an einem Kiosk vorbei, der eine wahre Grossauflage dieses Magazins aufgestapelt hatte.

Ich kaufte sofort ein Stück. "Wahrscheinlich wird es endlich alle Fragen beantworten, die ich seit unserem Sommer in Ostdeutschland mit mir herumtrage", dachte ich. Zum Beispiel: Wie schlimm war das damals nun wirklich? Gab es auch Gutes? Oder: Was soll man von der Ostalgie halten?

Und, wahrlich: Eine dieser Fragen beantwortet Chefredaktor Michael Schaper schon im Editorial. Er schreibt: "Kurz: Die Diktatur drang in jeden Winkel der Gesellschaft vor, sie war lückenlos und flächendeckend, keiner vermochte sich ihr zu entziehen. Jede Bagatellisierung dieses totalitären Systems ist Geschichtsklitterung."

Vielleicht kann man das auch anders sehen. Aber das Heft belegt dann die These sehr anschaulich. Es ist im Grunde ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Ostalgie. Die Bilder sind absolut un-ostalgisch. Wer die Texte lesen will, braucht eine Grundahnung von Politik und muss sich ein bisschen hineinknien. Aber es lohnt sich. Die Autoren zeichnen detailgenau den Aufbau und den Zerfall eines menschenverachtenden Unrechtsstaates nach.

Mittlerweile verstehe ich auch, warum die Leute in Ostdeutschland diese alten Geschichten nicht an die grosse Glocke hängen. Wer Teil eines solchen Systems war (und die die allermeisten waren das ja nicht freiwillig) schaut lieber nach vorne als zurück.

7
Dez
2013

Eine verwöhnte Frau


(Cate Blanchett in "Blue Jasmine")

Gestern sahen wir Woody Allen's Blue Jasmine. Es war erst 19 Uhr. Ich erwartete einen halb leeren Kinosaal. Aber es war voll. Die Leute wollen diesen Streifen sehen.

Der Kulturflaneur lästert ja gerne über Hollywood-Filme. Sie hätten nichts mit unserem Leben hier in der Schweiz zu tun, sagt er. Aber Blue Jasmine hat mehr mit unserem Leben zu tun als uns lieb ist. Er führt uns unsere Ängste vor dem sozialen Absturz vor. Wir Kinogänger hierzulande wissen, dass es uns gut geht. Besser als den meisten auf der Welt. Wir wissen, dass wir fallen könnten. Wir fürchten uns vor dem Fall. Wir wollen wissen, wie er sich anfühlt. Wie er aussieht.

Woody Allen's Hauptdarstellerin Cate Blanchett führt uns das grandios vor. Sie spielt Jasmine, die verwöhnte Gattin eines New Yorker Finanzhais. Zu Beginn des Films ist sie mit ihren Louis Vuitton-Täschchen unterwegs zu ihrer mausarmen Schwester in San Francisco. Ihr Mann ist über kriminelle Machenschaften gestrauchelt. Sie ist pleite, ziemlich durch den Wind und ihre Schwester ist ihre letzte Zuflucht.

Und dann fällt sie weiter.

Woody Allen ist ja berühmt für amüsante Gesellschaftskomödien. Aber mit diesem Film lehrte er mich: Die Tragödie ist überhaupt kein verstaubtes Genre. Nun gut, er hat auch komische Seiten - er wäre sonst kein Woody-Allen-Film. Aber wahrlich: Jasmine scheitert krass, bildschön und auf verstörende Weise.

Einen Aspekt dieses Scheiterns hat kein Kritiker (ausser jener der NZZ) bislang angesprochen: Jasmine's Mitschuld und Mitverantwortung - an den kriminellen Machenschaften ihres Mannes und am Fall ihrer ganzen Familie.

"She looked the other way", sagt ihre Schwester mehrmals über sie: Sie habe die dubiosen Geschäfte ihres Mannes absichtlich nicht gesehen - und auch nicht seine Affären. Aber eine unglaubliche dramatische Wendung zum Schluss legt nahe, dass sie viel wusste. Hätte sie ihren Mann stoppen können? Hätte sie verhindern können, dass er das Geld ehrbarer Kleinsparer verjubelte? Hätte sie irgendjemanden retten können, wenn sie wenigstens rechtzeitig ausgestiegen wäre? Wie hätte sie das tun können?

Die antike Tragödien-Theorie sagt, dass der Mensch seinem Schicksal nicht entrinnen kann. Und doch liegt in diesen Fragen letztlich die Lektion für uns angstgeleitete Zuschauer.

4
Dez
2013

Wer möchte denn jung sein?

Es war in unseren Ferien im Oktober. Wir sassen im Garten eines Grottos im Tessin. Die Sonne schien, und vor uns dampfte eine köstliche Polenta.

Am Steintisch neben uns sassen zwei Biker aus der Deutschschweiz, Früh- oder Mittfünfziger, gut in Form. Ihr sportliches Pensum hatten sie absolviert. Jetzt brachte Kellnerin das zweite Halbeli* Merlot.

Die gaben mit ihren Söhnen an, die an der Uni waren. Erzählten von ihren Frauen, von denen eine zwei Halbtage pro Woche beim Arzt um die Ecke arbeitete. Von ihren Häusern, die die eine oder andere Reparatur benötigten.

"Und im Geschäft? Wie läufts?" fragte derjenige im roten Trikot. Er fragte mit hohen Erwartungen, ich konnte es sehen. Sein Gegenüber in Gelb war der Platzhirsch. Aber der Wein brachte die Wahrheit auf den Tisch.

"Jaa, das ist ein bisschen schwierig im Moment", sagte der Gelbe. "Wir hatten ja immer den Ruf, gute Qualität zu bieten. Das hat jetzt 20 Jahre lang funktioniert. Aber, ehrlich, das ist vorbei. Heute will kein Mensch mehr Qualität. Wer zahlt schon 20 Euro für Qualität, wenn Dir einer in Kasachstan den Job für 2 Euro macht?"

"Aber das ist doch Ramschware!" sagt der Rote.

"Klar. Wenn ich mir dieses Zeug ansehe, stehen mir die Haare zu Berge - aber dem Kunden ist doch das egal! Der bastelt dann halt selber noch ein bisschen. Denkt doch jeder: Ja, also, das da, das kann ich auch selber zurechtbiegen. Und das da... das merkt doch sowieso keiner."

"Hm", sagte der Rote.

"Also, weisst Du: Manchmal denke ich, ich wäre froh, ich wäre ein paar Jahre älter." Sagt der Gelbe.

Seltsam, denke ich. Wir haben doch angeblich einen Jugendwahn hierzulande. Und dann sagt einer so etwas. Und ich muss sogar gestehen: Ich habe etwas Ähnliches auch schon gedacht. Denn ehrlich: Wir sehen ja alle gerne jung aus. Aber nochmals jung sein? Nochmals von vorne anfangen? Und das heutzutage? Das heisst doch nur arbeiten, arbeiten, arbeiten und sich dazu auch noch ein Leben auf die Beine stellen. Die Alten aber: Die sitzen im wohlverdienten Ruhestand. Keiner stellt denen unbequeme Fragen über den Geschäftsgang. Wir aber stehen dazwischen. Zu jung, um in Rente zu gehen. Alt genug, um uns über unverbrauchte Konkurrenz Sorgen zu machen.

* einen halben Liter offenen Wein

30
Nov
2013

Nur für Schweizer Leser

Dieser Beitrag ist Wasser auf die Mühlen jener meiner Leser, die hier gerne über die Schweiz stänkern. Deshalb habe ich lange gezögert, ihn zu schreiben. Aber ich tue es jetzt trotzdem. In erster Linie für meine Schweizer Leser. Denn sie (und ich) sind zurzeit aufgefordert, über die Zukunft unseres Landes nachzudenken - Stichwort "Masseneinwanderung".

Als ich die Autobiografie von Franca Magnani* las, ist mir das mehrmals durch den Kopf gegangen. Deshalb zitiere ich hier ein paar Passagen der späteren ARD-Korrespondentin über die Schweiz. Magnani kam mit ihren Eltern nach Zürich. Das war in den frühen dreissiger Jahren. Ihr Vater war Antifaschist und auf der Flucht vor Mussolini.

Schon der Hauptbahnhof mutete das Kind befremdlich an: "Die Ordnung war eindrucksvoll, und es war so still, dass ich ein Geräusch hören konnte, das mit nie zuvor aufgefallen war: das tack-tack-tack der Absätze beim Laufen. ... In Zürich herrschte ausser dem Lachen meines neuen Freundes und dem Klappern der Absätze die totale Stille. (S. 57-8)*

Später berichtet sie, dass eines Sonntags ein Polizist an der Tür klingelte - weil ihr Vater dabei war, einen Nagel einzuschlagen. "Arbeit am Sonntag ist 'verboten'", belehrte ihn der Wachtmann. "Ihre Nachbarn haben uns informiert, dass sie hämmern. Das ist Arbeit. Das stört. Nicht wegen der Geräusche ... . Wegen der religiösen Gefühle." (S- 60-1).

In der Schule "herrschte ehrfurchtsvoller Respekt vor dem 'Herrn Lehrer'. Was er sagte, was das Evangelium. Dieser unbestrittene Respekt verhinderte jede denkbare Diskussion zwischen uns Schülern: 'De Lehrer hät's gseit ...'" (S. 67-8). Das brachte alle zum Schweigen.

Ich muss festhalten: Die Schweiz hat sich sehr verändert. Manches hat sich geradezu ins Gegenteil verkehrt. Heute kann man auf Schweizer Bahnhöfen überall Leute belauschen, die sehr vernehmlich intimste Details aus ihrem Leben ins Handy schwafeln. Polizisten klagen darüber, dass sie von Nachtschwärmern beschimpft und tätlich angegriffen werden. Und Lehrpersonen darüber, dass ihnen die Eltern ihrer Schüler wegen jeder Kleinigkeit ins Handwerk pfuschen.

Dennoch: In die Schweiz, die Franca Magnani erlebt hat, will ich auf keinen Fall zurück. Wir brauchen frischen Wind - auch darum scheint es mir nicht ratsam, dass wir anfangen, uns abzuschotten.

* Franca Magnani: "Eine italienische Familie". Köln ; Kiepenheuer & Witsch, 1990.

27
Nov
2013

Jubel im traurigen Café

Alles hier ist in langen Jahren ins gleiche, undefinierbare Gelblich herübergewelkt: die Wände, die Vorhänge, die Gäste. Es ist ein himmeltrauriges Café. Fast unsichtbar steht es im Verkehrsgebrüll einer Ausfallstrasse. Ich bin überhaupt nur hier, weil ich in der Nähe einen Termin habe und viel zu früh dran war.

Ich bin in eine untergehende Welt geraten. Zwei alte Männer blättern stoisch in der Zeitung. Es ist früher Nachmittag. Der Wirt - selber steinalt - bringt im Zeitlupentempo zwei Teller mit Speck und Bohnen - für sich und seine Frau, die im Lokal serviert. Er hat ein Zwänzgabachtimuul*.

Plötzlich fragt der eine Rentner den Wirt über zwei Tische hinweg: "Hesch de Match gseh?"** "Jojo", sagt der Wirt, "aber die hend jo schlächt gschpelt, die andere, die hättid doch das vel besser chönne!"*** Seine Mundwinkel sinken noch tiefer, so viel Verachtung in einem einzigen Gesicht! Sie zielt wohl auf Chelsea, das gestern Abend an der Champion's League vom FC Basel abgetrocknet wurde. Eine Sensation! Bilder vom jubelnden Basler Torschützen Salah zieren heute sämtliche Frontseiten im Land.


(Quelle: tageswoche.ch)

Der Gast lässt sich nicht beirren. "Momoll", sagt er, "die hend scho guet gschpelt, mer hed das gfalle!"****

Unerwartet mischt sich auch der andere Gast ein, ein neunzigjähriger Geist mit blauen Ringen unter den Augen und einem zeitlosen Buchhalter-Anzug: "Das hat es noch nie gegeben!" ruft er aus, "Auf der linken Flanke war jeder einzelne in Topform, von vorne bis hinten. Das wird es lange, lange nicht mehr geben!"

Nun kommt Begeisterung auf, der gelbliche Raum leuchtet, phosphoresziert gewissermassen. Die Mundwinkel des Wirtes stehen bald auf fünf vor halb sieben, aber er kann nichts gegen die plötzliche Lebendigkeit in seinem Lokal tun. Sie dauert wenige Minuten.

Dann geht der erste Gast. "Emmer vorewäg nä!", sagt der Wirt zum Abschied. "Jojo, nämmers wies chond"*****, sagt der Gast. Es ist der Rentnergruss in unserer Stadt.


*Luzerndeutsch für eine mürrische Miene: Die Mundwinkel sehen aus wie Uhrzeiger, die auf zwanzig nach acht stehen.
** "Hast Du den Match gesehen?"
*** "Die haben doch schlecht gespielt. Die hätten das doch viel besser gekonnt."
**** "Die waren schon in Ordnung. Mir hat das gefallen."
**** Zwei Versionen von: "Wir werden schön eins ums andere tun."
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