13
Mrz
2013

Prominenter Behinderter

Kaspar Hauser ist der prominenteste Behinderte der europäischen Geistesgeschichte. 1828 taucht er in Nürnberg auf. Niemand kennt den Jugendlichen, der sich kaum bewegen und kaum sprechen kann. Heute gilt als sicher: Er ist so geworden, weil man ihn als Kind schwer vernachlässigt hat. Die Psychologie benennt denn auch eine schwere Form des Hospitalismus nach ihm. Doch nicht deshalb hat er Generationen fasziniert. Sondern, weil seine Herkunft und sein Tod immer rätselhaft geblieben sind. Und vor allem: Weil Dokumente zeigen, dass er nach einiger Förderung beträchtliche Unangepasstheit im Denken und grosses lyrisches Talent entwickelte. Seine Geschichte wirft Fragen auf: Was macht einen Menschen aus? Was bedeutet Zivilsation? Welche Rolle sollen Menschen haben, die nicht hineinpassen?

Das Schauspielhaus Zürich führt zurzeit seine Geschichte auf. Hauser ist darin für seine Umwelt in mehreren Hinsichten eine Nummer zu gross. Damit man das auch sieht, bedient das Theater sich eines genialen Regie-Einfalls: Die Finder und Weggefährten von Kaspar werden von Kindern gespielt - die wiederum von schwarz verhüllten Gestalten wie Puppen geführt werden. Das sieht so aus.


(Unter dem Tisch Jirka Zetts als Kaspar Hauser).

Klingt kompliziert und sieht auf dem Bild auch so aus. Auf der Bühne aber wirkt es absolut stimmig. Man kann stundenlang zusehen.

Die Geschichte spielt sich dazu noch in einer Biedermeier-Stube ab, die von der Grösse her zu den Kindern passt. Kaspar muss lernen, sich zu verbiegen. Sonst kommt er gar nicht erst zur Tür herein. Nie habe ich die Beschränktheit eines durchaus intellektuellen Milieus vielschichtiger vorgespielt bekommen. Denn man sollte die Macht dieser Figürchen nicht unterschätzen. Hinter jedem steht ja eine dunkle Gestalt, die ihn führt. Der Schatten der Zivilisation? Das Über-Ich? Wer weiss.

In dieser Welt wird Kaspar zum Versuchskaninchen und zum Spektakel. Man verhätschelt ihn, dressiert ihn und erschrickt über die Wucht seiner Aussagen. Er lernt viel - auch, sich zu ängstigen. Und ganz nebenbei spielt sich an ihm ein Wohlfahrtsdrama ab. Erst macht Hauser Schlagzeilen, und der Bürgermeister spricht ihm begeistert eine Rente. Als das Interesse an Hauser nachlässt, will er sie wieder streichen. Hauser soll nun plötzlich für seinen Lebensunterhalt aufkommen - obwohl ihn darauf niemand vorbereitet hat. Keine Verlässlichkeit in der Sozialpolitik, schon damals nicht.

Klar, dass Kaspar an all dem zerbricht. Wie das passiert, zeigt das Stück zu wenig folgerichtig - eine Schwäche der episodenhaften Inszenierung. Dennoch: Wer über die Rolle von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft einmal jenseits vom finanzpolitischen Dauergetöse nachdenken möchte, sollte sie sich unbedingt ansehen.

10
Mrz
2013

Abseits von Disneyland-Luzern

Endlich kam ich heute Nachmittag an diesem geheimnisvollen Plätzchen in Littau an.



Es ist der Anfang des alten Stahlwerk-Kanals zwischen der Emmenweid und Littau. Im Frühjahr spriessen hier neben den Wasserläufen der Bärlauch und die die Veilchen. Ich liebe diesen Ort.

Aber ich musste erfahren: Er und der linksseitige Emmenuferweg nach Littau sind bis Mitte Juni 2013 gesperrt. Und man liest es leider erst, wenn man den ganzen Weg hierher schon zurückgelegt hat. Wenn man nach einem Zvieri* und dem nächsten öffentlichen Verkehrsmittel lechzt - und nun einen ziemlichen Umweg machen muss, um zur nächsten Busstation zu finden.

Wenigstens hatte sich der Spaziergang bis dort gelohnt. Wer beim Kantonsspital Luzern beginnt, durchquert eine Gegend abseits vom Disneyland-Luzern. Ständig stösst man auf Orte, auf denen die Hoffnungen unserer Wachstumsstrategen ruhen.



Hier - wenige Schritte vom Spital - musste ein Erlenwäldchen einem neuen Autobahnzubringer weichen. Zurzeit ist auch er noch gesperrt. Aber eines Tages soll er das eine Ende einer mächtigen Umfahrungsstrasse namens Spange Nord werden (mehr dazu beim kulturflaneur). Das andere Ende wird unweit von unserem Haus entfernt liegen. Wenn sich die Träume unserer liberalen Autofanatiker erfüllen, gehen die Bauarbeiten auf unserer Seite 2015 los. Von mir aus darf es ruhig später sein.

Grosse Pläne gibt es auch für den Seetalplatz, den nächsten Fotohalt auf unserer Route. 2030 soll es dort so aussehen:


(Quelle: www.emmen.ch)

Zurzeit sieht es so aus:



Hinter dem Seetalplatz beginnt dann ein Weg, über die Emmenweid, den man jedem Luzerner Kind zeigen sollte. Mein Gottenbub (ab morgen acht) hat ihn jedenfalls schon vor zwei Jahren gesehen - mitsamt Kläranlage.

Hier wird seit Jahrhunderten Industriegeschichte geschrieben. Es ist nicht das Ruhrgebiet und auch nicht Liverpool. Aber es ist gewiss die spannendste Gegend in unserer Agglomeration.


Hier riecht es gfürchig nach Chemie.


Hier steht die stehen die Überreste einer legendären Textilfabrik.


Hier wird bis zum heutigen Tag Stahl gegossen...


... und verarbeitet.

Wer all das gesehen hat, kommt schliesslich zum Anfang des alten Kanals. Hier biegt man wegen der Sperrung am besten rechts ab und steigt Richtung Wolfisberg. Hier wird es plötzlich grün. Weiter oben gibt es dann Agglo-Häuschen und zwei, drei Bauernhöfe.

Am Strassenrand beim Bauernhof bekam ich sogar mein Zvieri: Vier Kinder verkauften am Strässchen Apfelsaft. Er war zwar von der Migros und nicht vom Bauernhof. Geschmeckt hat er trotzdem. Und beim Neuhof erwischte ich den Bus Nummer 41.

* Zwischenmalzeit nachmittags um vier Uhr

9
Mrz
2013

Fred, der Unbeugsame

Nach Recherchen im Internet verstanden wir endlich, wo Fred Feuerstein den wortkargen Herbst 1944 verbrachte: in einem Dorf namens Plouharnel an der Südküste der Bretagne. Sein Bunker gehörte zur Festung Lorient. Dort harrten 10000 Deutsche aus, als die Alliierten die Bretagne längst besetzt hatten (hier mehr darüber). Das gallische Dorf der Unbeugsamen sozusagen - nur gehörte es nicht Asterix und Obelix, und auch von Wildschweinen ist nie die Rede. Die Deutschen stehlen Essen von den Bauern der Nachbarschaft. Und dann und wann kamen ein paar Rationen per U-Boot übers Meer.

In einem Brief vom 6. Januar 1945 schildert Fred, wie es mit ihm soweit gekommen ist - wobei die Reichszensurstelle eine wahrscheinlich hoch interessante Passage mit grünblauem Farbstift dick durchstrich. Danach schreibt er: "Ich war doch am 4. August mit meinem Zweiten Kompanie-Offizier mit dem Wagen auf Dienstfahrt..., und sind wir beide als die Gefangenen der Franzosen erklärt worden, gemeinsam mit ein paar anderen Deutschen. Auf meine Initiative sind wir zwei aber in den richtigen fünf Minuten eines französischen Gequassels ausgerissen und zu unseren deutschen Kameraden und Dienststellen zurückgekehrt. Und in dem Moment, wo das Gefecht in unserem Ort stattfand, waren wir wiederum für eine Sonderaufgabe mit dem Wagen unterwegs, sonst hätte mich der Amerikaner eventuell geschnappt. Aber meine ganzen privaten Sachen sind den Feinden in Erdeven in die Hände gefallen."

Fred hätte also die Gelegenheit gehabt, sich zu ergeben und so einen bescheidenen Beitrag zur Verkürzung des Krieges zu leisten. Aber er tat es nicht. Fürchtete er, Ehefrau Erna und Tochter Ernestina würden dafür bestraft? Eine Stelle in einem Brief vom 2. Dezember legt dies nahe: "Ich hatte in den vergangenen 90 Tagen viele Grübelstunden, und dann bin ich trotzdem nicht übergelaufen. Obschon Kameraden, die abhauten, mich mitnehmen wollten. Ich denke dabei immer an Euer Schicksal. So verlockend oft die Sicherheit in der Gefangenschaft wirkt, so denke ich doch immer an Euer Schicksal, das aus einem solchen gefährlichen Schritte resultieren könnte. Und wenn ich nicht mehr mit dem Leben davonkomme, so könnt Ihr doch annehmen, dass ich die Pflicht Euch gegenüber im Rahmen des nur möglichen erfüllt habe."

Der letzte Soldatenbrief, den Erna von Fred erhielt, trägt den Datumsstempel vom 25. Februar. Noch dauerte es mehr als zwei Monate bis zum Ende des Krieges. Die Deutschen kapitulieren am 8. Mai 1945. Doch die Männer in Plouharnel harren weiter aus.

6
Mrz
2013

Eingeschlossen

Herr T. und ich arbeiteten uns in einer finsteren Winternacht durch die Briefe von Fred Feuerstein. Wir lasen fieberhaft. Herr T.s Grossvater sprach zu uns wie ein Geist. Eilig griffen wir die Umschläge vom Sommer 1944 und danach heraus. Wo war Fred damals? Was erzählt er?

Es muss ihm etwas Merkwürdiges passiert sein. Am 20. August 1944 schreibt er seiner Frau Erna noch ohne Ortsangabe: "Es ist nun schon 16 Tage her, seit wir abgeschnitten sind und acht Tage, seit wir zur Übergabe aufgefordert wurden durch einen Parlamentär. Noch sind wir immer gut verpflegt, wenn auch nur noch der gefahrvolle Seeweg offen ist. Um uns herausnehmen zu können, fehlen die Mittel... Andererseits haben wir Befehl zum Ausharren bis zum letzten Schuss und zum letzten Blutstropfen. … Einige wenige Kameraden sind desertiert... Es ist weit bis zu den anderen Deutschen hinter uns und erst bis zur Reichsgrenze. … Eines ist sicher: dass es nach Abschluss hier für die Überlebenden nur noch die Gefangenschaft gibt."

Dann bricht der Strom seiner Briefe ab.

Abgeschnitten? Nur über den Seeweg erreichbar? Rätselhaft. Und das Schweigen dauert.

Der nächste Brief ist vom 2. Dezember. Auf dem Umschlag klebt ein Streifen mit Hakenkreuz und der Aufschrift: "Geöffnet von der Reichszensurstelle". Fred schreibt jetzt mit Bleistift auf grobfasriges Papier: „Es sind nun 117 Tage, seit wir wie Gefangene eingeschlossen sind." Und er hat seit dem 21. Juni keine Nachricht von Erna. Mehr als fünf Monate.

Im Dezember 1944 folgen mehrere Briefe einander. Sie haben alle Kleber von der Reichszensurstelle, sind alle ähnlichen Inhalts. Fred ist eingeschlossen. Er wartet auf Briefe von Erna. Er ist hungrig. "Man ist halt ab und zu ausgebrochen und hat sich Kartoffeln, Geflügel und Vieh vor der Nase der Feinde bei den französischen Bauern kurzerhand geholt. In der Not wird der Krieger zum Dieb. Freilich gabs dabei auch mal Zünder, aber wir haben ja auch Waffen und Blei."

Seine Isolation versteht er als Sühne für das, was er seiner Familie angetan hat.

Diese Briefe tragen wenigstens eine - nicht sehr gut leserliche - Ortsangabe: Er hat sie in an einem Ort namens Plouhamel oder Plouharnel geschrieben. Am 21. Dezember dann eine Karte mit einem gedruckten Text. Fred darf Weihnachtsgrüsse in die Heimat schicken: „Nachstehende Nachricht wurde durch Funk aus der eingeschlossenen Festung L’Orient am 10. Dezember übermittelt."

Wir griffen nach Google und Wikipedia.

2
Mrz
2013

Freds verlogene Sentimentalität

Fred Feuerstein überlebte den Ansturm der Alliierten im Juni 1944. Er blieb an einem unbekannten Ort in Frankreich und schrieb weiter seiner Frau Erna in Deutschland. Nur das Papier wurde schlechter.

Hatte die Zeit in der Wehrmacht ihn wirklich zu einem Kritiker des Nazi-Unwesens gemacht, wie er später behauptete? Wenn ja, so wäre er jetzt wortkarg gewesen. Wegen der Zensur. Aber er wurde nicht wortkarg. Im Gegenteil. Er gibt dem Drang nach, die Lage neu zu beurteilen. Und er tut es auf eine Art, die meine Sympathie für ihn schwer beschädigt.

So lästert er am 11. Juni über zwei Nachbarn Ernas, die nicht an der Front sind: "Heute kommen die Egoisten an den Tag in der ernsten Stunde. Dass so ein Müller oder Meier noch zu Hause sitzt. Junge Leute, ohne Bresten, gesund und ausgeruht." Fred scheint zu vergessen: In Deutschland herrschte Allgemeine Wehrpflicht. Wer nicht an der Front ist, hat sehr gute Gründe. Oder er profitierte von einer korrupten Stelle im System.

Am 5. Juli hofft er noch immer auf den Sieg: "Ich höre gerade, dass die V-1-Waffe gegen England so schrecklich gewirkt hat und demnächst auch V-2 drankommt, noch stärker."

Ausserdem entdeckt er seinen Hass auf die Franzosen. "Sie haben ein schäbiges, erhabenes Lächeln, als ob sie sagen wollten: Jetzt geht’s …(unleserlich) mit Euch", schreibt er am 9. Juni. Und am 20. August kommt die Stelle, an der sich mir schier der Magen umdrehte: "Die Franzosen sind nun satanisch hasserfüllt feindlich. Und wir haben dieses Sauvolk mit Glacéhandschuhen angefasst und ihre Kriegsgefangenen bei uns so anständig behandelt. Das ist der Dank dafür, dass sie nun hinter Büschen und Mauern lauern und aus den Häusern schiessen auf alles, was deutsche Uniform trägt. So kann nur der Franzose hassen. Er wird uns auch gar nie verstehen lernen. Er will das auch nicht. Wir Deutsche sind doch gewiss keine Engel. Aber wenn wir Frauen und Kinder sehen, dann werden wir weich."

Nichts rechtfertigt die sentimentale Verlogenheit, den blanken Zynismus dieser Stelle. Es waren Deutsche, die 75000 jüdische Frauen, Kinder und Männer aus Frankreich deportierten. Aber vielleicht hat Fred ja nie nach ihrem Schicksal gefragt. Und, naja, vielleicht hatte ihm nie jemand vom Massaker von Oradour vom 10. Juni 1944 erzählt. Dort ermordeten Deutsche 642 Menschen. Die Frauen und Kinder trieben sie in eine Kirche und zündeten das Gotteshaus an.

Aber dass die V-1 Tausende Zivilisten tötete und verletzte, müsste er eigentlich gewusst haben.

Doch, nein: Fred wollte keine Tatsachen sehen. "Wer zum Mörder wird, entwickelt die Begabung, es nicht zu merken", ein Zitat von Julia Voss zu diesem Thema.

Fred schlägt lieber blind mit Worten um sich.

Bis Ende August der Strom seiner Briefe versickert.
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