10
Dez
2010

Wenn das Ohr ertrinkt

Ertrinken soll eine der unangenehmeren Todesarten sein, habe ich einmal gelesen. Sicher sind Panik und ein hektischer Todeskampf typische Begleiterscheinungen. Nicht, dass ich jetzt stundenlang recherchieren möchte, um das zu belegen. Ich weiss auch gar nicht mehr, wie ich auf den Gedanken gekommen bin. Aber gestern wurde mir plötzlich klar: Wenn ich auf dem rechten Ohr einen Menière'schen Schub habe, dann fühlt sich das an, als würde das Ohr ertrinken.

Erst gurgelt es ein bisschen, dieser Tage öfter als sonst üblich. Schon davon bekomme ich Panik. Ich habe das Gefühl, irgendwie strampeln zu müssen. Manchmal bekomme ich eine Fressattacke - weil ich weiss, dass essen hilft. Jedenfalls kurzfristig.

Wenn's noch schlimmer wird, fühlt sich das an, als würde ich versinken. Die Geräusche der Welt verschwinden. Das Ohr schreit auf, pfeift, gurgelt, dröhnt. Alles strampeln nützt nichts mehr.

Und dann, irgendwann, ist es ganz still und ich höre fast gar nichts mehr. Das habe ich zum Glück lange nicht mehr gehabt. Das letzte Mal ziemlich genau vor einem Jahr.

Tatsächlich entspricht der physiologische Prozess, der bei der Menière'schen Erkrankung abläuft, ungefähr einer Überflutung des Innenohrs mit Lymph-Flüssigkeit.

Vielleicht ist sie deshalb so beängstigend.

8
Dez
2010

Schönste Weihnachtsbeleuchtung 2010

Neulich an einem grauen Abend verirrte ich mich in einem grauen Vorort unserer Stadt. Es dunkelte, und schliesslich fand ich eine Bushaltestelle. Sie lag in einer Schlucht aus alten Wohnhäusern, die wegen des ständig durchdonnernden Verkehrs grau und fast unbewohnbar geworden sind.

Es war ein stiller Abend.

Ich richtete mich auf eine längere Wartezeit ein. Da sah ich plötzlich auf der anderen Strassenseite ein Haus mit warm erleuchteten Schaufenstern.

Auf den Scheiben stand: Café Sarajevo.

Es ist eine gehobene Cevapcici-Bude. Ein Vororts-Haus mit einem hässlichen Vorbau. Altmodische Vorhänge verschleierten die Sicht auf zwei Spielautomaten.

Ich überlegte mir, ob ich hineingehen sollte. Zwei junge Typen kamen heraus. Nein, entschied ich. Das ist kein Café für eine Schweizerin mittleren Alters auf der Suche nach einer Tasse Verveine-Tee.

Bald kam der Bus.

Doch das Café Sarajevo wird mir immer als die schönste Weihnachtsbeleuchtung des Jahres 2010 in Erinnerung bleiben.




Ich will nicht ausschliessen, dass es auch damit zu tun hat.

6
Dez
2010

Freundliche Hundebesitzer

In der Nähe des Dorfes Eibu* fiel uns ein Hund an. Er schoss durchs Gartentor seines Bauernhofs und stellte den Pedestrian. Wildes Gebell und Schnappgeräusche. Ich hielt mich in sicherer Distanz. Der Pedestrian ist selber Mitbesitzer eines Hundes und schien die Lage halbwegs im Griff zu haben. Halbwegs. Wir erkannten schnell: Nur ein geordneter Rückzug konnte uns vor dem Zerfleischtwerden retten.

Wir hatten gerade die Hauptstrasse erreicht, als vom Hof ein Auto kam und bei der Einfahrt sowieso halten musste. Der Pedestrian klopfte an die Frontscheibe. Ein sympathischer Endzwanziger, Typ Landfreak, kurbelte das Fenster hinunter. "Ist das da hinten Ihr Hund?" fragte der Pedestrian. Der junge Mann nickte freundlich.

An dieser Stelle muss ich sagen: Ich kenne die Freundlichkeit von Hundehaltern. Nie werde ich das freundliche Flöten jener Zürcherin mit den beiden Enden einer Hundeleine in der Hand vergessen. "Er ist ganz ein Lieber!" flötete sie. Sie meinte ihren deutschen Schäfer, der sich gerade vor meiner zweieinhalbjährigen Nichte postiert hatte und streng auf sie hinunter blickte. Ich sehe heute noch die Panik im Gesicht des Kindes. Es flüchtete in die Arme seiner nahen Grossmutter, die es mit aussergewöhnlichem Schwung in die Höhe riss.

Aber das sollte ich gar nicht erzählen. Denn ich habe einen Verdacht: Manche Hundehalter empfinden sadistische Genugtuung, wenn ihre Lieblinge Passanten verängstigen. Deshalb sei es hier ein- für allemal festgehalten: Ich fürchte mich nicht vor Hunden. Ich finde Hunde an sich sympathische Geschöpfe, und ich kann mit den meisten gar nicht schlecht. Aber in der Stadt betrachte ich nicht angeleinte Hunde primär als triebgesteuertes Eigentum von Leuten, die etwas Wichtiges nicht begriffen haben: dass in der Stadt öffentlicher Raum knapp ist. So knapp, dass er nicht ohne Not mit Privateigentum vollgestellt gehört, das andere Leute behindert und potenziell gefährdet.

Auf dem Land bin ich etwas toleranter. Ich sehe die Schönheit der Tradition, auf einem Bauernhof einen Hund zu halten. Wahrscheinlich wurde sie mit der Erfindung des Türschlosses obsolet. Aber das geht mich im Normalfall nichts an.

In diesem Fall... also, Euch dürfte klar sein, dass mir nicht nach Freundlichkeit war. Ich traute meinen Ohren nicht, als sich Herr Pedestrian und der junge Landfreak nett zu unterhalten begannen. "Mein Hund?! Zugeschnappt?!" fragte schliesslich der Hundehalter ungläubig. "Also, das ist mir jetzt noch nie vorgekommen." Herr Pedestian glaubte ihm offensichtlich. Ich nicht. Dennoch entfernte ich den Ärger aus meiner Stimme und bestätigte, dass der Hund geschnappt hatte.

"Hm", sagte der Hundehalter, "Da werde ich wohl in Zukunft etwas besser auf ihn achten müssen."

Als er davongefahren war, schaute der Pedestrian noch einmal nach, ob auch alle Kleidungsstücke ganz seien. Ich nahm mich zusammen und räumte ein: "Wahrscheinlich erreicht man sogar bei Hundebesitzern mit Freundlichkeit mehr als mit Streitlust."

"Naja, der Typ sah ja auch so aus als ob man mit ihm reden könnte", sagte der Pedestrian gelassen.

Als wir später noch einmal in der Nähe des Hofes vorbeikamen, kam der Hund sofort wieder angerannt und verbellte uns wütend aus der Ferne.



* Man wird den Namen dieses Dorfes auf keiner Landkarte finden. Aber wer die sprachlichen Eigenheiten meiner Heimat kennt, weiss, was ich meine.

4
Dez
2010

Über diesen Blog

"Man sollte einen Themenblog haben", hat Acqua einmal gesagt. Ich pflichtete ihr bei. Wir gingen beide davon aus, dass ein Themen- oder Konzeptblog im Grunde etwas intellektuell Wertvolleres ist als ein Feld-, Wald,- und Wiesen- und Selbsterfahrungsblog wie unsere beiden*. In der Tat fallen mir in einer Sekunde rund ein halbes Dutzend Themen- oder Konzeptblogs ein, die ich gerne und regelmässig lese:

ivinfo zu den skandalösen Zuständen im schweizerischen Invalidenversicherungswesen
notquitelikebeethoven, der sich fast ausschliesslich mit Fragen zur Schwerhörigkeit befasst
der Journalistenschredder (der Name ist Programm)
enzyglobe, der reine Spass an der Möglichkeiten der Sprache
londonleben, eine Deutsche erzählt von ihrem Leben in der Britenmetropole
Postkartenvomfranz, ein Hingucker

Themen- oder Konzeptblogs gelten mittlerweile sogar als preiswürdig. Auch ich hätte das Zeug, einen Konzeptblog zu machen:

- Ich traue mir zu, halbwegs kompetent über Bücher zu schreiben (aber wer würde das ständig lesen wollen?)
- Ich verstehe ein bisschen was von Filmen (ditto)
- Ich könnte das Flaneurinnentum zum Haupt-Blogthema erheben (auch kein Mainstream-Thema)
- Mein Wohnort böte geradezu unendlich viel Stoff (nicht, dass das meine treue Wiener Leserschaft interessieren würde, fürchte ich)
- Da wären meine musikalischen Studien (siehe Bücher)
- Und dann habe ich da ja auch noch die Meniere'sche Krankheit

Letzteres Thema würde mir jede Menge Leser bringen. Das zeigten jedenfalls die Erfahrungen im letzten Herbst. Und ich habe ein starkes Bedürfnis darüber zu schreiben - eine Sprache zu finden, mit der sich dieses Chaos aus Dröhnen, Gurgeln, Schwindeln und gehörmässigem Verschwinden aus der Welt wenigstens ein bisschen ordnen lässt. Ja, ich könnte episch über die Menère'sche Krankheit schreiben. Gelegentlich sogar witzig.

Aber ich verbringe so viel Zeit mit meinem Blog. Will ich wirklich all diese Zeit mit Nachdenken über meine Krankheit verbringen? Dann würde die Krankheit in meinem Leben einen Stellenwert bekommen, den sie nicht hat und nicht haben sollte. Und auch in der Vorstellung meiner Leser. Nein, das kann es nicht sein. 90 Prozent von mir sind gesund und vielseitig interessiert. Und über einen Teil der Dinge, die mich interessieren, kann ich sogar schreiben, ohne mich beruflich zu kompromittieren. Das soll in diesem Blog zum Ausdruck kommen. Er Blog bleibt ein Feld-, Wald-, Wiesen- und Selbsterfahrungsblog.

* Pardon, Acqua: Du kommst in letzter Zeit der Idee eines Konzeptblogs natürlich viel näher...

3
Dez
2010

Nadj Abonji

Dieses Buch habe ich aus dem selben Grund gekauft wie viele, viele andere Leser: Weil es die Antwort der Literatur auf rechtsnationale Parolen über Migration ist. Weil es für preiswürdig befunden wurde. Weil die Autorin weiss, wovon sie schreibt. Melinda Nadj Abonji hat selber einen so genannten Migrations-Hintergrund. Ihr Buch zu lesen ist gleichsam ein politischer Akt.

Viele kaufen es. Das Buch ist seit einem Wochen auf Platz 1 der Bestseller-Listen. Es gibt einer so genannten Seconda namens Ildi Kocsis eine Stimme. Es schafft Verständnis für Scharen von Leuten, die in unserem Land aufgewachsen sind und bislang keine laute literarische Stimme hatten. Jeder sollte es lesen.

Auch wenn ich selber erst auf den letzten Seiten mit dem Buch wirklich warm geworden bin. Die Sprache finde ich weit gehend in Ordnung. Die Umstandskrämerei, die mich oft an deutschsprachiger Literatur stört, lasse ich ihr durch. Denn da und dort findet sie wirklich starke Bilder.

"Aber warum", dachte ich, "warum erzählt uns diese Frau auf den ersten Seiten ihres Buches pausenlos von einer Allee, einer Ebene, von der Luft zwischen Bäumen?" Ich meine: Bäume, Luft, eine Ebene, das ist schön und poetisch. Aber es entwickelt nicht gerade die Spannung, die mich gierig in einen Roman hineinbeissen lässt.

Erst nach ganz passablen 240 Seiten bekomme ich eine Antwort. Endlich. Denn auf Seite 241 serviert Ildi im Café ihrer Eltern am Zürichsee. Dabei hört sie sich das unbedarfte Geschwätz von ein paar Rentnern über den Jugoslawien-Krieg an - den Krieg, der gerade in der Heimat ihrer Eltern stattfindet. Sie soll über diese Heimat berichten, sagen die Rentner. Doch Ildi sagt, sie habe keine Zeit. Denn die Rentner wollten wohl nichts "über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen, den Staub, den Dreck, über Béla" hören. Aha. Die ersten Seiten bringen also auf den Punkt, was Heimat für Ildi ist: Bilder, Stimmungen, die Luft zwischen den Bäumen eben.

Die Erklärung kommt spät, aber ich kann beipflichten. Die Frage "was ist Heimat" ist relevant. Und Ildis Antwort öffnet Raum für Interpretationen. Ist diese Allee, diese Ebene nur eine Erinnerung? Oder steht die grosse Weite der Vojvodina im Gegensatz zur jener Enge, die ja in der Literatur typischer Charakterzug der Schweiz ist?

Überhaupt, die Schweiz. Das Buch ist am stärksten dort, wo die junge Ildi ihrer Wut über die Schweiz und die Schweizer freien Lauf lässt. Ildi hat noch mehr Anlässe wütend zu sein als die Schweizer Jugendlichen jeder heranwachsenden Generation. Ihre Familie lässt das Prozedere einer Einbürgerung über sich ergehen, und Ildi empfindet es als Demütigung. Irgendjemand schmiert Scheisse an die Toilettenwände im Café ihrer Eltern. Ildi interpretiert es als Geste der Fremdenfeindlichkeit.

Aber sie wird erwachsen in diesem Land. Und sie wird nicht erwachsen wie die Vojvodina-Ungarin als die sie geboren ist. Sondern ausdrücklich wie eine Schweizerin.
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