12
Jun
2010

Frau Frogg verreist

Dass Frau Frogg verreist, ist keine Selbstverständlichkeit. Noch an Weihnachten war mir klar: Nie wieder wird sie ihr sicheres Plätzchen fünf Gehminuten von der besten Meniere-Klinik der Schweiz für mehr als sechs Stunden verlassen. Oh, ich habe da noch ein paar Traumreisen. Aber ich war ein gebranntes Kind: Es könnte ja sein, dass ich einen Hörsturz hätte. Was würde ich dann tun in South Carolina, Tokio, Budapest, East London oder Trabzon?

Meine erste Zugreise nach dem Hörsturz im Herbst führte mich für ein paar Stunden ins 70 Zugsminuten entfernte Baden. Das war im März. Die Reise war eine Tortur. Kurz vor Zürich begann mein gutes Ohr zu eiern. Zum Glück war Lena dabei. Sie hat selber die Meniere'sche Krankheit. Sie weiss, wie einem in so einer Lebenslage zumute ist. Und sie hatte einen Müeslistengel dabei, den sie mir freundlicherweise abtrat. Danach fühlte sich mein Ohr besser an.

Das Eyafjallajökull-Grounding im Mai beobachtete ich mit heimlicher Schadenfreude.

Ich setzte Herrn T. darüber in Kenntnis, dass ich diesen Sommer nicht verreisen werde. Unter keinen Umständen. Man kann auch in Balkonien Ferien machen, beschied ich ihm. Vor allem, wenn Balkonien in einer Tourismus-Hochburg der Schweiz liegt.

Doch Herr T. schaltete auf stur. Unsere Sommerferien auswärts sind zehn Jahre lang sakrosankt gewesen. Herr T. muss jeweils ein paar Wochen im Jahr weg von allem. Wer Herrn T.'s Lebensgewohnheiten kennt, hat Verständnis dafür. Zudem waren unsere Reisen unser Kult und und lieferten reichlich Material für zahlreiche Blog-Epen. Hier ein paar Müsterchen:

Sozialismus mit Pinienduft.
Hochzeit auf Türkisch.
Als seine Brücke fertig war, stürzte er sich von ihr in die Tiefe.

Bald war klar: Ein Kompromiss musste her.

Wir entschieden auf Scuol, zu deutsch Schuls, im Engadin. Das ist weg, aber nicht zu weit. Es liegt im Süden, aber nicht zu sehr.

Meine Ferien haben heute begonnen. Mit einem kleinen Umweg bei Freunden sind wir am Montag dort.

Heute eiert mein gutes Ohr. Aber ich nehme meine Kräfte zusammen. Das muss jetzt gehen. Ich melde mich hiermit für drei Wochen ab.

9
Jun
2010

Schweizer Song wieder entdeckt

Ich habe seit meiner Jugend nicht gesungen. Ich war ja immer der Meinung: Singen und Gitarre spielen überlässt man besser jenen, die es richtig gut können. Musik braucht schliesslich ein Publikum. Da gehöre ich hin, wenn es um Musik geht. Zum Publikum.

Aber gestern Abend holte Veronika ihre Gitarrre, und wir sangen mit den Kindern. Das hat Spass gemacht. Jetzt finde ich, mit Kindern solte man singen. Unbedingt.

Ich stellte fest, dass sich das Liedgut der Schweizer Jugend in den letzten Jahren nur leicht verändert hat: So haben ein paar Abba-Songs haben ihren Weg in den Kanon gefunden. Fest zum Repertoire gehört dagegen immer noch "Ramseyers wei go grase"* Zum Glück! Zwar verstand ich den Text (hier ist er) schon als Kind nicht recht. Schliesslich war ich ein Stadtkind und hatte keine Ahnung vom Grasen. Was etwa bedeutet: "Der Ältischt geit a d'Schtange"? Keine Ahnung. Macht nichts. Man versteht als Kind, dass der älteste Bub einen Fehler macht und den Grossvater in Rage versetzt. Er hängt den Kindern einen Schlötterling** an, und diese wehren sich gemeinsam. Oder so ähnlich.

Der Song hat eine typische Schweizer Emotion auf wunderbar fröhliche Weise konserviert: Ärger. Man kann richtig Gas geben beim Singen und furchtbar böse dreinschauen.

Deshalb eignet er sich auch gut für Rock- und Hiphop-Neu-Interpretationen, wie ich bei meiner kleine Youtube-Recherche festgestellt habe.



Das hat offenbar auch eine bekannte Schweizer Apfelsaft-Firma gemerkt.

Demnächst werde ich meine fast vergessene Gitarre bei meinen Eltern holen.

* "Ramseyers wollen Heu ernten gehen"
** Beschimpfung

6
Jun
2010

Haarige Tatsachen

Schon ewig will ich über das Thema schreiben. Aber es ist ein Tabuthema, und nicht zuletzt deshalb zögerte ich. Doch vor zwei Tagen machte das Wetter einen ziemlich abrupten Garderobenwechsel nötig. Noch der Donnerstag sah Frau Frogg in ihrem Februar-Schal. Gestern dann schien endlich richtig die Sonne, und die Frauen der Schweiz führten auf breiter Front neue T-Shirts und entblösste, frisch lackierte Zehennägel spazieren.

Frau Frogg hatte keine Zeit, ihre Zehennägel zu lackieren, denn die Sonne brachte es an den Tag: Sie hatte es versäumt, sich um die Haarpracht an ihren Beinen zu kümmern.

Ihr müsst wissen: Als Desmond Morris seinen Bestseller Der nackte Affe über menschliche Verhaltensbiologie schrieb, dachte er dabei nicht an Frau Frogg. Frau Frogg ist nicht nackt: Sie ist - wenn im Naturzustand belassen - an Armen und Beinen mit mit wuchernden, schwarzen Haaren bekleidet. Ihr Bikinibereich reicht ungefähr bis zu den Knien. Auch im Gesicht ist sie für ein weibliches Wesen ausserordentlich stark behaart: Frau Froggs Augenbrauen etwa arbeiten schläfenseitig fleissig an einer Brücke zum Haaransatz. Nur der Teufel weiss, für wen oder was.

Einmal hatte ich einen ebenso dunkel und dicht behaarten Liebhaber. Er wollte unbedingt ein Kind von mir. Manchmal stellte ich mir voller Zärtlichkeit vor, wie ein Erzeugnis unserer Liebe ausgesehen hätte. Ein Pelzäffchen wahrscheinlich, von oben bis unten bedeckt mit einem zarten, schwarzen Flaum.

Doch das war einmal. Frau Frogg ist älter geworden. Inzwischen führt sie einen täglichen, verschwiegenen Kampf gegen einen Damen-Kinnbart. Neuerdings spriessen ihr sogar Haare im Winkel zwischen dem Kiefer und Hals. Sie sind schwarz - derweil jene auf ihrem Kopf allmählich ergrauen.

"Stimmt es, dass Frauen ab 45 auch weniger Kopfhaare haben?" fragte ich meine neue Coiffeuse. Ich hatte das in der Werbung gelesen. Meine Coiffeuse warf einen vielsagend Blick auf die frisch abgeschnittenen Haufen neben meinem Stuhl und sagte: "Darüber wirst Du Dir wohl nie Sorgen zu machen brauchen!"

An all das dachte ich, als ich am Freitagabend die Haare von meinen Beinen graste.

Danach konnte ich es endlich wagen, mein Sommerröckchen anzuziehen. Ich sähe darin noch ganz ansehnlich aus, behautet Herr T. Auf der Strasse fühlte ich mich etwas weissbeinig, etwas nackt - aber plötzlich doch wieder erstaunlich jung.

Nur der Sommerhit, den ich auf meinem MP3-Player wählte, fühlt sich irgendwie letztjährig an.



Aber der Sommer dauert - hoffentlich - noch eine Weile und wird Neuigkeiten bringen.

2
Jun
2010

Plötzlich blind

Gestern um 15.10. Ich arbeitete am Computer im Büro. Plötzlich tanzt ein gelbschwarzer Punkt vor dem Namen, den ich gerade schreibe. Ich kann ihn nicht mehr lesen. Ich schaue auf eine andere Stelle des Bildschirms. Der gelbschwarze Punkt hüpft mit und versperrt mir wieder den Blick. Er wird grösser und gelbviolett. Psychedelische schwarze Spiralen wirbeln über den Rand meines Gesichtsfeldes.

So etwas ist mir noch nie passiert.

Es wird schlimmer.

Verdammt. Ich fürchte doch täglich und nicht ganz unrealistischerweise, taub zu werden. Blindheit käme mir wirklich äusserst ungelegen!

Ich erschrecke nicht. Ich verspüre keine Panik. Ich tue, was ich tat, als ich letzten Herbst eines Morgens aufwachte und Herrn T. neben mir nicht mehr verstand. Ich reagiere wie ich in brenzligen Situationen zu reagieren pflegte, als ich noch Auto fuhr: Ich schalte meinen Verstand auf volle Lautstärke und handle.

Ich nehme einen Apfel und suche den Weg nach draussen. Eine Pause wird mir guttun, vermute ich. Hinter unserer Bude haben wir einen grossen Parkplatz mit Blick ins Grüne. Dort ist auch die Raucherecke. Die Raucher machen merkwürdige Sprüche, wenn ich mich jeweils mit einem Apfel zu ihnen setze. Aber das ist jetzt egal. Ich brauche frische Luft und Gesellschaft

Ich blicke in die Bäume und quatsche mit meinem Kollegen, dem Mechaniker.

Allmählich wird das Grün drüben wieder lückenlos. Ich schildere dem Mechaniker, was mir eben passiert ist. Er ist eigentlich nicht Mechaniker, sondern grafischer Gestalter. Warum ich ihn den Mechaniker nenne, erzähle ich Euch ein andermal... vielleicht. Jedenfalls kennt er lange Präsenzzeiten am Bildschirm. "Ach, das Phänomen kenne ich!" sagt er, "Da erschrickt man ganz schön! Aber das ist nicht schlimm! Es reicht, wenn Du ein bisschen nach draussen gehst und in die Weite guckst, glaub mir!"

Ich ernenne den Mechaniker unverzüglich zu meinem neuen Lieblingskollegen.

Er behält recht. Nach zehn Minuten tanzen mir noch ein paar Schleifen am Augenrand. Dann ist der Spuk vorbei. Ich arbeite weiter.

Erst abends wird mir bei der Erinnerung an die Szene mulmig. Ich googelte - recht zögerlich, ich wollte meine Augen schonen - "flimmern vor den Augen". Keine gute Idee. Google sollte einen Warnhinweis aufschalten: "Krankheiten googlen kann ihre Gemütsruhe gefährden und panische Ängste verursachen." Heute früh ging ich erst mal in die Apotheke und zog Erkundigung über dieses merkwürdige Malheur ein. Man riet mir, mir keine Sorgen zu machen. Aber ich solle mich doch gelegentlich beim Augenarzt anmelden.

31
Mai
2010

Generationen-Treffen

Neulich lud uns eine Freundin in ein Haus in den Bergen ein. Wir waren zu viert dort:

Unsere Gastgeberin (Jahrgang 1970)
Ein Freund von ihr (Jahrgang 1975)
Herr T. (Jahrgang 1958)
Und Frau Frogg (Jahrgang 1965)

Ich habe seit Jahren keinen Abend mehr in den Bergen verbracht. Um 16 Uhr leerten sich die Wanderautobahnen. Wir waren allein inmitten von frisch ergrünten Alpweiden im Abendlicht. Da war so viel Platz, so viel Luft zum Atmen!

Und Zeit zum Reden! Der Freund war auf einem anderen Kontinent aufgewachsen und erst kurz vor der Matur in die Schweiz gekommen. Herr T. musste zur Kenntnis nehmen, dass der junge Mann rein gar nichts über die Achtziger-Unruhen in Zürich wusste. Aber er war interessiert. Was für eine Gelegenheit für unseren Hardcore-Altlinken T., seine Erinnerungen an jene Zeiten wieder aufleben zu lassen! Er erzählte von der Sturheit der Zürcher Behörden damals. Dass nur reine Zerstörungswut Fortschritte im Kampf um Raum für die Jugend gebracht habe. "Erst das Bild von der Bahnhofstrasse mit zertrümmerten Scheiben um die Welt ging, ging es endlich vorwärts." Den Schluss brachte er, wie immer, nachdenklich: "In jener Zeit reiste ich einmal nach Mexiko. Dort hat man mich ständig gefragt, warum die Leute in Zürich randalierten. In Zürich! Ich konnte es ihnen nicht erklären. Ich meine: Wie erklärt man Leuten in Mexiko, warum die Leute im reichsten Land der Welt ihre grösste Stadt in Trümmer legen?"

Später erzählte der Freund. Er ist Akademiker, arbeitet in der Industrie und sucht gerade eine neue Stelle. "Es ist nicht so einfach wie früher", sagt er. "Früher fanden die Firmen niemanden, der genau das konnte, was sie brauchten. Da bekamst Du eine Einarbeitungszeit. Aber heute gibt es keine Einarbeitungszeit mehr. Heute finden die irgendwo in Deutschland jemanden, der genau das schon gemacht hat, was sie brauchen. Also nehmen sie den Deutschen." Ich lauschte interessiert. Bei uns arbeiten sehr wohl auch Deutsche. Aber ich habe schon lange keine Stelle mehr gesucht. Ich habe noch nicht gelernt, in Konkurrenz mit Deutschen zu stehen. Ich fragte ihn: "Könntest Du Dir denn vorstellen, in Deutschland zu arbeiten? Ich meine: Wenn die dort jemanden suchen würden, der genau das kann, was Du kannst, dann wäre das das Logischste."

"Eigentlich nicht", sagte er, "Ich bin viel herumgekommen. Ich weiss, dass es mir in der Schweiz gefällt. Ich bleibe hier, wenn ich kann."

Alle vier zusammen, merkten wir überrascht, deckten wir zwei Generationen Geschichte ab.
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