12
Okt
2013

Die Schweiz im Zug


Der Morteratsch-Gletscher, den ich am 8. Oktober von der Berninabahn aus fotografierte.

Herr T. und ich hatten nochmals Gelegenheit, kurz zu verreisen - und ich wollte meinen labilen Ohren nicht die Strapazen einer Flugreise zumuten. Deshalb entschlossen wir uns zu einer Tour de Suisse. Es gibt zurzeit bei den Schweizerischen Bundesbahnen Viertages-Ferienpässe durch die ganze Schweiz für sagenhafte 149 Franken.

Wir bauten auch Ruhetage ein und logierten komfortabel. Ich nahm sogar mehr Kleider als sonst und etwas diskreten Schmuck mit. Ich wollte auf einer solchen Reise nicht wie ein Freak aussehen. Und essen muss man ja auch noch - es war also nicht in jeder Hinsicht eine Schnäppchenreise. Ich fürchte, wir haben in diesen sechs Tagen mehr ausgegeben als in zweieinhalb Wochen Ostdeutschland im Sommer. Wer daraus schliesst, dass meine krankheitsbedingten Geldsorgen ausgestanden sind, irrt sich leider. Die Aussichten sind wieder einmal unsicher.

Aber noch kann ich mir ein solches Reisli leisten. Und es sind ja ohnehin unsichere Zeiten. Die Amerikaner wollen die Weltwirtschaft in den Abgrund stürzen. In Syrien sterben die Menschen. Es droht eine Klimakatastrophe, und andere Leute haben auch Sorgen und leben trotzdem.

Also gönnten wir uns den Luxus und machten eine den Geist bereichernde, manchmal auch befremdliche Exkursion auf den Touristenpfaden unseres eigenen Landes.

Die Route:

6. Oktober: Luzern - Thalwil - Chur - St. Moritz - Berninapass - Poschiavo / Puschlav - Miralago

8. Oktober: Miralago - Berninapass - St. Moritz - Maloja - Soglio (Bergell)

10. Oktober: Soglio - Chiavenna - Comersee - Porlezza - Lugano

12. Oktober: Lugano - Bellinzona - Arth Goldau - Luzern



Reportagen folgen!

5
Okt
2013

Gedächtnisschwäche

Ein Freund von mir, um die fünfzig, sagte neulich: "Mein Gedächtnis lässt nach." Ihm sei eingefallen, dass er sich als Kind einmal ein Bein gebrochen habe. "Und ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, welches von beiden es war."

Ich muss gestehen: Mir (48) passieren ähnliche Dinge. Ich habe schon in unserem Zeitungsarchiv einen Kommentar aus den frühen Nuller Jahren gelesen und gedacht: "Hm. Gar nicht schlecht geschrieben. Schön kantig und klar." Erst zuunterest bei der Autorenzeile sah ich, dass er von mir war. Und neulich im Fitness-Center fiel mir ein, dass ich ja einen halben Hamlet-Monolog auswendig kann. Ich konnte ihn am Rudergerät problemlos herunterhaspeln:

"I have of late, (but wherefore
I know not) lost all my mirth, forgone all custom of exercises;
and indeed, it goes so heavily with my disposition;
that this goodly frame the earth, seems to me a sterrill
promontory..."
*.

Weiter kam ich nicht. Wie so vieles, was ich an der Uni anfing, habe ich auch das nie fertiggemacht. Was schade ist, denn die saftigen Stellen kommen erst. Ja, so viel weiss ich: Ich habe den Text an der Uni gelernt. Aber wann? Und was mich daran so begeistert hat, dass ich ihn meinem Langzeitgedächtnis einbläute? Ich weiss es nicht mehr.

Das fand ich beängstigend. Denn das Erinnerungsvermögen ist doch das Haus unseres Ichs! Seine Möbel, seine Wände, seine Fenster sagen uns, wer wir sind. Wenn grosse Stücke einfach so verloren gehen, dann haben wir unser Ich auf Sand gebaut. Dieser Sand kann uns das ganze Erdgeschoss zuschütten, und wir merken es nicht einmal.

Wenigstens haben wir heute das Internet, das Gedächtnis der Welt. Ich habe den Hamlet-Monolog dort recherchiert und in diesem wunderbaren Filmchen die Erklärung für meine Liebe zu einem Fetzchen Weltliteratur gefunden:



Den Film Withnail and I habe ich damals gesehen, da bin ich mir ganz sicher. Ich hatte aber natürlich vergessen, worum es darin überhaupt ging. Hier eine Inhaltsangabe.

Es ist ein Film, den ich mir unbedingt noch einmal ansehen muss. Seine Komik habe ich damals sicher verstanden. Seine Tragik dringt aus jeder Pore des Videos: Es die eines künstlerisch recht begabten Menschen, der sein Leben einfach nicht auf die Reihe bekommt. Richtig fassen kann ich sie wahrscheinlich erst heute.



* Hier gibts den vollständigen Text übersetzt: Ich habe seit kurzem - ich weiß nicht, wodurch - alle meine Munterkeit eingebüßt, meine gewohnten Übungen aufgegeben, und es steht in der Tat so übel um meine Gemütslage, daß die Erde, dieser treffliche Bau, mir nur ein kahles Vorgebirge scheint; seht ihr, dieser herrliche Baldachin, die Luft, dies wackre umwölbende Firmament, dies majestätische Dach mit goldnem Feuer ausgelegt: kommt es mir doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dünsten. Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! Im Handeln wie ähnlich einem Engel! Im Begreifen wie ähnlich einem Gott! Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staube? Ich habe keine Lust am Manne - und am Weibe auch nicht."

3
Okt
2013

Carina schreibt

Meine Nichte Carina (8) und ich sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. Man gebe uns eine Schreibmaschine, und wir werden still und vergnügt stundenlang vor uns hinklappern.

Als ich sieben war, brachte meine Vater eine damals schon antike Hermes Standard 6 nach Hause.



Eigentlich sollte meine Mutter das Zehnfingersystem darauf lernen. Aber sehr schnell gehörte sie mir. Ich schrieb darauf meine erste Geschichte. Irgendetwas mit einem Geissbock und einem Schloss. Und später 300 Seiten meines ersten Romans. Er blieb leider unvollendet - weil ich mich mit 15 fürs Leben entschied statt fürs Schreiben. Macht nichts. Der Roman war grottenschlecht.

Carina tippt in diesen Tagen auf einer elektrischen Brother aus den achtziger Jahren:



Das Möbel gehört meinem Vater, und ich habe darauf noch Seminararbeiten geschrieben. Man konnte in der Maschine ein paar Abschnitte Text speichern. Sie war eine Vorläuferin des Computers.

Gestern schrieben Carina und ich schliesslich vierhändig auf dem Ding. Wir bauten zusammen eine Geschichte: Sie einen Satz, ich einen Satz. Sie begann mit einem gfürchigen rosaroten Bären und einem dicken Schwarm Obstfliegen. Und einem Mädchen, das Georgina hiess. Oder eigentlich George.

Ich lernte viel übers Geschichtenschreiben. Und über Kinder:

1) Kinder sind harmoniebedürftig. Sie wollen ihre Figuren eigentlich gar keinen Gefahren aussetzen. Bär Max fletschte die Zähne, als er George sah. Aber Carina weigerte sich, George die Gefahrensignale erkennen zu lassen. Die beiden mussten sofort Freunde werden.

2) Das Handy kann im Märchen heutzutage den Zauberstab ersetzen. Zum Beispiel: "Ich habe ein App, das unsichtbar macht."

3) Manche Mädchen mögen Romanzen schon mit acht. Geschichte endete punktgenau: "Und dann wurde aus dem rosaroten Bären Max ein wunderschöner Prinz. Er und Geroge heirateten und lebten fortan in einem wunderschönen Schloss ohne Obstfliegen."

29
Sep
2013

Flucht aus der Fata Morgana

Am Freitag hatte ich eigentlich vor, wieder ins Fitness-Center zu gehen. Aber es war ein Tag wie aus dem Bilderbuch. "Wer an einem solchen Tag in eine düstere Muckibude geht, ist selber schuld", sagte Frau Frogg.

Ich ging spazieren.

Ich startete am Seetalplatz bei den grossen Fabriken. Aber eigentlich suchte ich etwas anderes. Rechts der Kleinen Emme fand ich zwischen Autogaragen und Spenglerbetrieben den Aufstieg durch den Rothenwald. Schliesslich stand ich auf einem Hügel mit Sportplatz und sah, was ich hatte sehen wollen: die Fata Morgana.



Die Siedlung im Vordergrund heisst eigentlich Pilatusblick - auch wenn man auf dem Bild die Rigi sieht. Es ist sowieso ein schwaches Bild, ein Handybild halt. Es erklärt nicht, warum ich die Häuser die Fata Morgana nenne. Ich nenne sie so, weil sie weiss schimmert - bei jedem Wetter. Und weil sie, nur leicht erhaben über Wohnsilos und Fabriken, unerschrocken das Ideal des Lebens im Einfamilienhaus behauptet.

Ich stieg hinunter in die Fata Morgana. Und, Freunde, ich wollte gewiss nicht auffallen und folgte auch nur dem Hauptweg durchs Quartier. Aber schon an der ersten Strassenecke folgten mir die argwöhnischen Blicke dreier Anwohner. Sofort war klar: Hier sind Eindringlinge nicht willkommen.

Ich machte mich vom Acker. Ich wollte nicht, dass man mir die Polizei auf den Hals hetzt. Als ich bei der Hauptstrasse war, grinste der DJ in meinem Kopf pfiffig und warf einen Song aus den achtziger Jahren an: Reussbühl von Hösli.

Ich leb' in einem Örtchen, das
sich aufgegeben hat

Geschichte nicht kennt - nicht will

Mit fünftausend mehr wär's
vielleicht 'ne Stadt

My God - I live in Reussbühl-Hill

Die Polizei, das hört' ich sagen
die hat einen Schlüssel für
meine Wohnung in Reussbühl

Sie lieben keine Blumen und
hegen keine Gärten

Lieben's dunkel und löschen das
Licht dazu

Haben Krach mit vollbehaarten
Hausabwarten

Um acht ist Nacht und dann ist
Ruh

Die Asylanten, das hört' ich
sagen, die binden den Abfall-
sack nicht zu - in Reussbühl

Dort wo der Bus vielleicht
Einfach gar nicht hält

Sitte und Moral zerfällt

Das billigste Bier weit + breit

Für viel mehr bleibt keine Zeit

Buskontrolleute, das hört' ich
sagen, die kontrollieren am
allerliebsten in Reussbühl

Und Reussbühler hört' ich
schon sagen, nirgends auf der
Welt ist es wie in Reussbühl.*


*Zitiert aus Dominik Riedo (Hg.): "Luzern Luzern", Verlag Pro Libro Luzern, 2011

Hier gibts endlich ein YouTube von der Fassung von 1994! Die bessere Fassung mit einem saftigen Bläsersatz klingt hier an - und es gibt dazu eine Menge über Reussbühl. Und hier noch ein YouTube mit Hösli als junger Sänger mit Rockgott-Potenzial.

25
Sep
2013

Im Fitness-Center

Neulich habe ich mir ein Schnupperabo fürs Fitness-Center gekauft. Ich weiss: Das passt nicht zu mir. Ich bin ja eher von der Sport-ist-Mord-Fraktion. Aber ich habe etwas Gewicht zugelegt. Und man wird nicht jünger: Wegen ein paar Zipperlein in den Beinen bringe ich es mit Marschieren nicht mehr so leicht weg.

Also liess ich mich in die Geheimnisse der Beinpresse und anderer Folterinstrumente einweihen.


(www.cardiofitness.de)

Der Coach erklärte mir, weshalb man bei fleissigem Gebrauch der Beinpresse abnimmt: "Man strengt damit die grössten Muskeln im Körper an, vorne, in den Beinen. Die füllen sich nachher wieder auf." Womit? Ich war von der Komplexität des Apparats überfordert und vergass zu fragen.

Erst beim Ausdauertraining am Rudergerät schaute ich mich um. Ich sah Menschen, die ihre Übungen absolvierten. Sie erinnerten mich an Muslime in der Moschee, die sich in regelmässigen Zeitabständen gen Mekka zu Boden werfen. Die Menschen auf ihren Sportgeräten verrichten Rituale ohne Gott. Ohne Sinn? Ich weiss es nicht.

Ich weiss nur: Ich langweilte mich. Auf einem Bildschirm lief EuroSport. Gäääähn! Da erinnerte ich mich an einen Trick, den der Europa-Wanderer Patrick Leigh Fermor auf seinen ödesten Wanderstrecken anwandte: Er sagte sich alles auf, was er auswendig konnte. Das machte ich auch. Das heisst: Das Vaterunser liess ich aus, dafür kann ich einen Psalm und einen halben Hamlet-Monolog. Am besten passte eine lyrische Studie über die Sinnlosigkeit des Amerikaners James Tate namens The Blue Booby.

Die kann ich auch nur bis zur Hälfte. Leigh kam mit dem Aufsagen von Versen durch die ganze Oberrheinische Tiefebene. Ich kam nur bis zur Minute 11.

Ich machte dann doch noch ohne Gedichte weiter bis Minute 15. Auf dem Nachhauseweg sah ich ständig dieses Bild vor meinem geistigen Auge:



Jetzt ahne ich, womit sich die Muskeln in meinen Beinen auffüllen wollten: mit Streuselkuchen.
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