3
Jul
2013

Der Königstein-Schock


Am 11. Juni spazierten über diesen idyllischen Landstrich in der Umgebung von Dresden. Wir waren glücklich - niemand hätte gemerkt, dass wir schon einen kleinen Schock hinter uns hatten.

Am Morgen desselben Tages hatten wir auf die Tourismus-Hotline der sächsischen Schweiz angerufen, wo wir am nächsten Tag hinfahren wollten. Wir hatten eine Wohnung in Königstein gemietet. Wir sollten unbedingt kommen, sagte uns die Frau am Telefon. Die Lage normalisiere sich allmählich. Einkaufen könne man wohl bei Eduscho. "Oder vielleicht in Pirna", sagte sie, "Ach, Sie haben kein Auto?! Hm... da müssen Sie mit dem Zug hinfahren. Ja, es fährt jetzt wieder alle zwei Stunden eine S-Bahn. Aber vom Bahnhof Pirna müssen Sie dann auch ein Stück gehen. Die Gegend dort war überflutet."

Herr T. und ich sahen einander nachdenklich an. Dann rief er unseren Vermieter in Köngstein an, Herrn Kämmerer. Wir wussten ja: Unsere Ferienwohnung hatte die Flut der ersten Junitage unbeschadet überstanden. Wir würden da hinfahren.

Doch es kam anders. Das Gespräch war kurz, aber merkwürdig. Am Schluss stotterte Herr T. zu Herrn Kämmerer, es tue ihm leid. Sehr leid. Dann hängte er auf und berichtete: "Alles war gut bis am 9. Juni. Und dann kam am Sonntagabend ein Hagelwetter und zerstörte die Wohnung. Sie ist unbewohnbar. Wir können da nicht hin."

Ja, das sei das Hagelgewitter gewesen, das wir aus dem Flugzeug als harmloses Gewölk von oben gesehen hatten, erklärte uns Frau Punctum. Es hätte in der sächsischen Schweiz nochmals grosse Zerstörungen angerichtet. Welch ein Schrecken für jene, die geglaubt hatten, sie hätten das Schlimmste schon hinter sich!

Herr T. und ich waren ratlos. Was sollten wir jetzt tun? Und wir rätselten: Wie kann ein Hagelgewitter eine Wohnung total zerstören? Wir würden es noch herausfinden. Doch dazu später.

Frau Punctum riet uns, eine neue Wohnung in Bad Schandau zu suchen. Das sei auf derselben Elbseite wie der Nationalpark. Da seien wir schon mal näher dran. Es war ein guter Rat, wie sich zeigen sollte. Doch davon später mehr.

1
Jul
2013

Das scharfe S

Aufmerksame Leser meiner letzten Beiträge haben vielleicht bemerkt, dass ich "Meißen" nicht immer gleich geschrieben habe. Bevor wir dort waren, hiess es bei mir jeweils "Meissen". Ich sagte mir: Mit Manierismen wie dem "ß" fangen wir hier gar nicht erst an.

Danach aber schien es mir kulturlos, die sympathische Stadt an der Elbe ihres Grundrechts auf ihren korrekten Namen zu berauben.

So suchte ich das "ß" auf meiner Tastatur, konnte es aber nicht finden. Kein Wunder: Ich verwende eine Schweizer Tastatur, und wir Schweizer kennen kein "scharfes S". Als ich die Regeln für seine Verwendung nachschlug, verstand ich auch, warum: Das "ß" wird für das stimmlose "s" verwendet. Also für das "s" in Fußball zum Beispiel. Das stimmhafte "s" schreiben die Deutschen wie wir. Aber das ist eine Unterscheidung, die wir in der Schweiz gar nicht brauchen. Denn wir kennen überhaupt nur stimmlose Konsonanaten.

Ich glaube nicht, dass viele Schweizer wissen, was stimmhafte Konsonanten sind. Dabei ist es nicht so schwierig, einen solchen hervorzubringen. Kurzanleitung: Man spreche das Wort "Hase" wie ein Deutscher aus - und zwar so, dass das "s" leicht kräuselt in der Nase. Dann ist es stimmhaft.

Einige deutsche und österreichische Leser denken nun bestimmt, wir Schweizer hätten eine einfältige Sprache. Da widerspreche ich vehement! Das Schweizerdeutsche besteht aus Dutzenden, charmanten Dialekten und einigen wenigen Halskrankheiten. Jeder Dialekt hat seine eigene Stellung in unserem Dialekt-Kosmos und seine eigenen Kuriositäten. Das Berndeutsche zum Beispiel hat nicht weniger als 23 Vokale. Das ist rekordverdächtig. Das Hochdeutsche hat laut Wikipedia nur deren 15. Zum Glück ist Berndeutsch keine Hochsprache und wird selten geschrieben. Wir bräuchten sonst eine grössere Tastatur.

Für das "ß" dagegen gibt es ja copy/paste.

30
Jun
2013

In die Höhe

In der tiefer liegenden Altstadt von Meißen hatten wir als Touristen an jenem 10. Juni nichts verloren. Wir wären nur den Helfern im Weg gewesen. Aber Meißen hat ja seinen majestätischen Burghügel. Der war trocken geblieben.


(Quelle: Wikimedia)

Dort wollten wir hin. Beim Aufstieg suchten wir das erste Café auf, das über der Flutlinie lag und geöffnet war: das Journal Café Capuccino. Durch die Gaststube lief zwar noch der dicke Schlauch einer Wasserpumpe. Aber man schien hier sichtlich um die Aufrechterhaltung einer Art Normalität bemüht. Es gab heisse Suppe.

Offenbar waren die WCs des Lokals im Keller überflutet worden. Wer mal musste, bekam jedenfalls den Schlüssel zum Zimmer 10 des Hotels nebenan - und damit Gelegenheit, einen Blick auf ein charmantes Zimmer zu werfen. Dazu auch der Kulturflaneur, der in seinem Beitrag Wesentliches zum Thema "Tourismus im Flutgebiet" sagt.

Spätestens beim Anblick des Doms hatte ich das Hochwasser ohnehin vergessen. Die Kirche ist in ihrer formstrengen gotischen Bauweise, in ihrem schieren Drang nach oben schlicht überwältigend.

Mir gefiel besonders die Gestaltung der Fenster. Wo die Erbauer anderer gotischer Kirchen im Farbenrausch schwelgten, waren die Erneuerer des Meißner Doms zurückhaltend, geradezu kleinkariert.



Das lässt das sakrale Bauwerk durchsichtig wirken - und filigran. Überirdisch schön.


(Quelle: mhoefert.de)

29
Jun
2013

Zweimal Hochwasser

An unserem ersten Morgen in Deutschland (am 10. Juni) stellte ich fest: Menière-Patientin Frogg hatte Hochwasser im Ohr. Mein Gehör hatte merklich nachgelassen. Ich beschloss, mich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Vielleicht würde sich die Lage ja bald wieder bessern.

Wir brachen zu einer Besichtigung von Meißen auf.

Herr T. musste unterwegs ständig alles zweimal zu mir sagen, dennoch stellte ich bald fest: Meine Augen waren so hungrig auf die ungewohnte Umgebung, dass mich der Zustand meiner Ohren nur mässig störte.

Die Anfahrt nach Meißen per S-Bahn war ein grosses Abenteuer. "Reisen weitet den Blick", schreibt Birgit Schmid in der aktuellen Print-Ausgabe des "TagiMagi". "Ja. Eine Reise belebt, berichtigt, belehrt und bildet." Und sie hat recht. Das wusste ich an jenem Tag.

Der Altstadt näherten wir uns von etwas ausserhalb. Die grosse Flut der letzten Tage hatte hier kaum Spuren hinterlassen. Wir hatten sie schon fast vergessen, als wir auf der Strasse vor uns grosse Haufen Müll sahen.



Es waren kaputte Matratzen, kaputte Stühle, Kinderspielzeug. Ganze Wohnungseinrichtungen auf der Strasse, das Innerste nach aussen gekehrt. Die Erdgeschosse daneben leer und zum Teil verdreckt. Überall. Es war ein schockierender Anblick, nicht für die Augen Fremder bestimmt. Doch was sollten wir tun? Wir sahen.

Auch den Marktplatz: total verschlammt, alle Läden geschlossen, überall Helfer mit Gummistiefeln. Die ganze Altstadt: verschlammt, sämtliche Ergeschosse verdreckt, die Läden geschlossen. Sperrgut auf der Strasse.

Erst jetzt bekam ich eine Ahnung davon, was für eine Katastrophe diese Flut gewesen war.

Gastmahl des Meeres

Wir Schweizer glauben ja, unser Hochdeutsch sei in etwa gleich wie jenes der Deutschen - mal abgesehen vom Akzent, der uns in Deutschland sehr schnell verrät. Die Deutschen mokieren sich gern ein bisschen über diesen Akzent. Umgekehrt begegneten uns in Deutschland immer wieder sprachliche Phänomene, die wir in der Schweiz nicht kennen - und über die wir staunen. Oder über die wir uns ein bisschen mokieren. Jedenfalls machen sie uns klar, dass Deutschland eben doch anders ist als die Schweiz. Bald begann ich solche Wendungen zu sammeln und nannte sie Wörter des Tages. Gelegentlich waren es solche aus der ehemaligen DDR - aber nicht nur.

Herr Punctum lieferte das erste, als wir an unserem ersten Abend auf Fische zu sprechen kamen: Gastmahl des Meeres. So hiess in der DDR ungefähr das, was in der Schweiz heute pragmatisch, etwas protzig und Neudeutsch "Seafood Restaurant" heisst. Dagegen hat "Gastmahl des Meeres" etwas berührend Poetisches, ja Philosophisches. Waren doch Gastmähler die ganze westliche Kulturgeschichte hindurch Zusammenkünfte, bei denen Geist, Genuss und Gemeinschaftssinn sich - im besten Fall - zu einem kostbaren Ganzen verbanden. Dass solche Erlebnisse nicht der Intelligentsia vorbehalten sein sollten, finde ich im Grunde nicht verwerflich.



Allerdings scheint das Resultat gastronomisch nicht über jeden Zweifel erhaben gewesen sein, wie dieser Beitrag nahelegt. Offenbar lässt sich auch Gastlichkeit nicht staatlich verordnen. Hier und hier noch mehr über das Gastmahl des Meeres.

28
Jun
2013

Bei Frau Punctum

Frau Punctum steht im Ruf, eine sehr liebenswürdige Gastgeberin zu sein. Ihm wurde sie schon mehr als gerecht, bevor wir sie zum Erstenmal gesehen hatten: Sie wartete am Flughafen Dresden lange, sehr lange auf uns - weil Frau Frogg ihr in einem Anfall von Reisefieber-Demenz eine falsche Ankunftszeit angegeben hatte. Falls Frau Punctum beim Warten je ungehalten geworden war (was ich sehr gut verstanden hätte), liess sie es uns bei unserer Ankunft keine Sekunde lang spüren.

Statt dessen erzählte sie uns von den Flugzeugen, die sie beim Warten beobachtet hatte. Die meisten hätten wegen eines Hagelgewitters erhebliche Mühe beim Landen gehabt. Wir selber erlebten den Sturm noch über den Wolken und nur als leichtes Geholper. Aber seine Folgen sollten wir noch zu spüren bekommen. Dazu später.

Erst einmal fuhren wir durch tief grüne Abendlandschaften und fühlten uns von Anfang an sehr wohl.

Bei einem wunderbaren Abendessen, bei dem auch Herr Punctum zugegen war, kamen wir auf das Thema "Fisch" zu sprechen. Frau Punctum erzählte vom lebenden Karpfen, der während ihrer Kindheit jeweils an Weihnachten in der Badewanne geschwommen sei. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich in einem in vielerlei Hinsicht fremden Land zu Besuch war. Dagegen verblasst doch das Rollschinkli, das jeweils an Weihnachten im grossen Topf meiner Mutter schwimmt.

Frau Punctum erzählte, sie und ihre Geschwister seien schon sehr fasziniert gewesen von dem Karpfen. Aber dann habe jemand ihn töten müssen - und das habe ja niemand gern gemacht.

Wie ein Wasserfall

Seit zwei Tagen sind sind Herr T. und ich zurück aus der sächsischen Schweiz. Ich bin so voller Eindrücke, dass ich erzählen könnte wie ein Niagarafall.

Ihr erinnert Euch: Wir hatten vor, am Sonntag, 9. Juni, in ein Überschwemmungsgebiet zu reisen und wussten nicht, wie es um unsere Ferienwohnung im überfluteten Königstein stand. Am Samstag, 8. Juni, meldete sich unser Vermieter, Herr Kämmerer, dann doch noch. "Es ist alles in bester Ordnung! Kommen Sie her und bringen Sie nichts als gute Laune mit", sagte er zu Herrn T. Herr T. war zu nett, ihn in ein Kreuzverhör über die Lage in Königstein zu nehmen. Wir würden ja sehen.

Nun ist reisen für Menière-Patientin Frogg ja auch ohne Unvorhergesehenes immer ein Affentheater. Neun Stunden nach Dresden im Intercity, eingeklemmt wie eine Fröschin in einem Eierkarton? Oder anderthalb Stunden im Flugzeug mit all den möglichen Stressfaktoren, die so ein Flug mit sich bringen kann? Was schadet dem Gehör weniger? Ich erspare Euch die Details meiner epischen Diskussion mit Herrn T. Hier nur so viel: Am 9. Juni machten wir uns auf nach Basel Mulhouse, von wo aus wir einen EasyJet-Flug gebucht hatten - die schnellste und mit sehr viel Abstand billigste Verbindung.

Die kommenden Beiträge sind Frau Punctum, gewidmet, die uns so liebevoll empfangen hat. Und den Menschen in Sachsen, die gerade dabei waren, nach der grossen Flut von Anfang Juni ihre Existenzgrundlage wieder aufzubauen - und die dabei ihre Freundlichkeit nie verloren.
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