16
Mai
2013

Die Fremde vom Friedhof

Neulich um 17.30 Uhr, draussen auf dem grossen Friedhof. Ich warte auf den Bus. Aber wahrscheinlich ist wieder irgendwo der Verkehr zusammengebrochen. Es dauert.

Im Bushäuschen sitzt eine alte Frau. Sie wartet auch.

Man spricht hierzulande keine Fremden an. Man hat sein Leben und keine Zeit für die Möglichkeiten und Gefahren, die sich aus solchen Begegnungen ergeben. Nur bei Überschwemmungen und chaotischen Verkehrssituationen sieht die Sache anders aus. Ich sage etwas zu ihr, sie lacht noch, und dann sagt sie plötzlich: "Sie! Mit meinem Kreislauf stimmt etwas nicht. Mir ist nicht gut. Wissen Sie, ich bin 93. Ich habe schon eine Streifschlag gehabt."

Ich schaue sie genauer an. Tatsächlich. Um die Augen herum ist sie so weiss, als hätte sie für ihren Besuch bei den Toten Kriegsbemalung aufgelegt. Sie zeigt mir die Innenseite ihres Augenlids. "Ist das blutunterlaufen?" fragt sie. Ähm..., es könnte schlimmer sein. Ich versuche sie mit Reden bei Sinnen zu halten und verfluche meine medizinische Ahnungslosigkeit. "Soll ich Sie ins Spital bringen?" frage ich. Das ist hier gleich um die Ecke. Aber das ist ihr zu anstrengend.

Schliesslich kommt der Bus.

Ich helfe ihr hinein. Sie lässt ihre Tasche fallen, ich hebe sie auf. Im Bus bekommt sie wieder ein Mü Farbe, ist aber immer noch unsicher. Bei der Apotheke aussteigen will sie aber nicht. "Nein, nein! Da müsste ich ja aufstehen!" sagt sie. Die Situation ist kompliziert. Braucht sie Hilfe oder nur Gesellschaft? Ist sie froh, dass ich da bin? Oder denkt sie, ich will mich aufdrängen?

Wir steigen unten an der Kreuzung beim See aus. Bei der Ampel sieht sie das Licht auf der anderen Seite nicht und hält leicht meinen Arm. Sie will ein Fläschchen Rivella. Sie sitzt und trinkt. Und redet. Ich mag sie. Sie gibt sich gern vornehm. Ich bin nicht sicher, ob sie nur die Tapfere spielt, oder ob es jetzt wieder besser geht.

Schliesslich gehe ich mit ihr zum Bus Nr. 24. Sie will selber nach Hause und steigt selber ein.

Ich fahre nach Hause und überlege lange, ob ich sie anrufen sollte.

12
Mai
2013

Der Traum vom Schreiben

Meine treuen Leserinnen und Leser wissen: Vor ein paar Jahren habe ich noch den Traum verfolgt, Schriftstellerin zu werden. Genauer: Krimiautorin. Ich habe 2009 ein weit fortgeschrittenes Projekt nicht zuletzt aus gesundheitlichen Gründen fahren lassen.

Seither habe ich - ausser auf diesem Blog - wenig geschrieben. Aber den Drang, Geschichten zu schreiben, habe ich immer noch. Zwei, drei Projekte habe ich vage verfolgt. Für eines habe ich einen Viertelplot und viele Notizen. Aber ich habe nicht richtig losgelegt, weil mich eine düstere Ahnung verfolgt. Eine Ahnung, die zu Worten wurde, als ich dieses Buch zu lesen begann.



Auf Deutsch heisst es Das Leben und das Schreiben - und es ist ein Buch mit viel Klartext über die Imagination und darüber, wie man sie zu Büchern macht. King schreibt (ich übersetze selber):

"Schreibende bilden eine Pyramide wie wir sie in allen Bereichen menschlichen Talents und menschlicher Kreativität vorfinden. Zuunterst sind die Schlechten. ... Über ihnen steht eine Gruppe, die etwas kleiner, aber immer noch gross ist. Das sind die kompetenten Schreiber. Die nächste Ebene ist viel kleiner. Hier sind die wirklich guten Schreiber. Und über ihnen allen - über fast allen von uns - sind die Shakespeares, die Faulkners ..." und so weiter. Es sei unmöglich, aus einem schlechten einen kompetenten Schreiber zu machen, so King. Aber es sei "mit viel harter Arbeit, Hingabe und Hilfe zur richtigen Zeit", möglich, aus einem kompetenten einen guten Autor zu machen.

Nun mache ich mir vielleicht etwas vor - aber ich habe mich immer für eine kompetente Autorin gehalten (King schliesst bei diesen Überlegungen JournalistInnen ausdrücklich ein, über BlogerInnen äussert er sich nicht). Also wären meine Chancen intakt, einmal eine gute Geschichte zu schreiben. Ich müsste nur genügend harte Arbeit und Hingabe aufbringen.

Doch genau hier liegt das Problem. Ich habe einmal hart an einem Roman gearbeitet. Ich habe mich sogar der Illusion hingegeben, dass es meiner Gesundheit guttun würde, einen Roman zu schreiben. Ich erlebte berauschende Momente. Doch meine Kräfte haben damals nicht gereicht. Und meiner Gesundheit genützt hat es auch nicht.

Es ist Zeit für mich, mich von einem Traum zu verabschieden, der mich ein Leben lang begleitet hat.

8
Mai
2013

Von Büchern erschlagen

Neulich habe ich am Fernsehen Erdbeben-Modellfilme für Tokio gesehen. Man sah eindrücklich, wie bei einem Beben Stärke 7 "Büros zu tödlichen Fallen werden", wie es im Text hiess. Das Problem sind die Büchergestelle. Sie schütteln erst ihre Last ab und krachen dann um. Oft so, dass sie den Menschen in den Büros den Fluchtweg abschneiden. Im Video unten sieht man etwas Ähnliches.



Vage ging mir durch den Kopf, dass ich ja meist inmitten meiner Bücher schlafe. Dann vergass ich die Sache wieder. Doch gestern Abend war ich kränklich und hatte eines jener Stimmungstiefs, bei denen ich leicht weinerlich und sehr furchtsam werde. Und da gerade keine anderen Katastrophen die Existenz von Frau Frogg bedrohen, begannen sich meine Ängste auf meine Bücherbretter zu fixieren. Die Gestelle sind hoch, an sich wackling und auch noch zum Bersten voll. Eines davon würde bei einem Erdstoss mit Sicherheit auf mich fallen.

Herr T. lachte mich aus. Aber gänzlich abwegig sind meine Befürchtungen nicht. Wir hatten letztes Jahr ein Erdbeben Stärke 4,2. Hier mehr über die Erdbeben-Wahrscheinlichkeit in der Schweiz.

Mein Blick fiel vor allem auf die drei dicken, in Leinen gebundenen Romane oben links. "Hardbacks" nennt man so etwas in der Buchhändler-Fachsprache - und sie sind nicht nur hart, sondern auch schwer. Sie gehören Herrn T. Es sind Romane von Upton Sinclair. Meine Berechnungen ergaben, dass sie mir wie Projektile an den Kopf knallen würden.

Einer von ihnen heisst "Weltende".

4
Mai
2013

Das Kind und der Porsche

Mit meinem Gottenbub Tim (8) auszugehen, ist erfrischender als ein Bad im Meer an einem Hitzetag. Nur die letzten zwei- bis dreihundert Meter Fussweg bis zu seinem Zuhause sind oft etwas anstrengend. Ich bin mir nicht sicher, ob jeweils der Gottenbub in den Seilen hängt - oder vielleicht doch die Gotte.

Ich denke mir dann irgendeine Clownerei aus, damit es leichter geht. Mittlerweile glaube ich, der Slapstick und die Standup-Comedy sind überhaupt nur entstanden, weil unsere steinzeitlichen Vorfahren auf ihren langen Tagesmärschen ja den Nachwuchs irgendwie bei der Stange halten mussten. Wer die besten Faxen machte, hatte einen evolutionären Vorteil.

Letztes Mal sagte ich: "Stell dir vor, vor 150 Jahren gab es Leute, die mit Schildkröten an der Leine spazieren gegangen sind! Sie gingen sooo langsam!" Wir probieren es aus. Aber er hat schnell genug hat ruft: "Jetzt gehen wir mit einem Eichhörnchen an der Leine!" Wir hoppeln los. Ein paar Meter, dann ruft er: "Schildkröte!" Wir fallen brüsk in die Zeitlupe zurück.

Dann ruft er: "Jetzt so schnell wie ein Porsche Turbo!" Wir spurten. "Schildkröte!" ruft er. Wir bremsen. Dann er: "Jetzt wie ein BMW!"

Ich bin froh, dass wir bei ihm zu Hause sind, bevor wir ein ganzes Autoquartett durchhaben.


(Quelle: https://fotos.autozeitung.de)

Einen leichten, poetischen Soundtrack aus der Schweiz zu dieser Story gibts hier.



BAUM: "She smiles". Aus der Schweiz.

1
Mai
2013

Schlimmes Hagelwetter

Eben ist ein heftiger Hagelschauer über der Stadt Luzern niedergegangen.


(heute, ca. 18 Uhr auf unserem Balkon)

Die Körner sind baumnussgross und prasselten auf unsere Dachfenster wie Steine. Ich bekam panische Angst um unsere Fensterscheiben.

Noch heute Morgen habe ich japanische Kirschblüten und Magnolienbäume in ihrer weissen Pracht bewundert. Zum Glück! Wahrscheinlich war das eben ihr Ende.

Himmelherrgottnochmal!!! Wird das Wetter eigentlich nie mehr normal?!

Bezaubernder Roman

Um zu erklären, was ich an dieser Liebesgeschichte so bezaubernd finde, beginne ich am besten mit einer Leseprobe:

"Das Unheil war vergangenen November über mich hereingebrochen.
In keiner Weise ahnend, was mich dort erwarten würde, radelte ich morgens fröhlich zur uniwersitejt; im Rucksack verstaut Laptop, Notizblock, Schreibetui, zwaj bichlech über Wirtschaft und eine Banane mit einem brojnen Fleck. Es war ein wolkenloser, aber ausgesprochen kalter tog, und als ich die Uni betrat, beschlug meine briln sofort. Nachdem ich sie abgenommen ... hatte, stieg ich die ... Treppe zum Vorlesungssaal hinauf. Vor dessen Tir hatte sich eine Stauung von Menschen ergeben. Ich stelle mich an.
Da rief neben mir eine junge froj: 'Laura!'"
...
Noch nie hatte ich eine derart scheijne froj erblickt, und unwillkürzlich sprach ich leise den Segensspruch beim Sehen von Bäumen oder anderen Geschöpfen von aussergeöhnlicher Schönheit..."
(Seite 35).

Was Ihr an diesem Text als nicht Hochdeutsch erkennt, ist nicht etwa Schweizerdeutsch, wie die Nationalität des Autors Thomas Meyer vermuten liesse - sondern Jiddisch. Meyers Erzähler Motti (kurz für Mordechai) Wolkenbruch ist ein junger, orthodoxer Jude aus Zürich Wiedikon. Doch Meyer gelingt in diesem Buch ein Kunststück, an dem sich viele Schweizer Autoren vergeblich abmühen: Es amalgamiert eine Mundart so stimmig mit der Hochsprache, dass wir mit seinem Roman ein leuchtendes, kleines Kunstwerk vor uns haben.

Die Mundart ist ja ein Kreuz für die Schweizer Autoren. Ob "Frühstück", "Morgenessen" oder "Zmorge" - ob "Strassenbahn" oder "Tram": Jeder, der über das Leben in der Schweiz schreibt, muss den für seine Kunst richtigen Abstand zu ihr finden. Wer ihr zu nahe tritt, wird schwer lesbar oder klingt volksdümmlich. Wer sich zu weit von ihr entfernt, wirkt leblos - oder wie ein ahnungsloser Deutscher.

Nur wenigen Autoren gelingt nebst dem sprachlichen Spagat auch noch eine runde Geschichte, die zur Turnübung passt. Meyer ist einer von ihnen. Sein junger Held Motti steht zwischen der jüdischen Tradition und dem westlichen Stadtleben im 21. Jahrhundert. Die ganze Story dreht sich um die Frage, was er wählen wird.

Der Roman ist auch deshalb köstlich, weil er mit sehr irdischer Komik aufwartet - und seinen Figuren doch mit einer himmlischen Zärtlichkeit begegnet.
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Journal einer Kussbereiten

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