7
Nov
2011

In der Notaufnahme

Herr Meniere hatte mich fünf Tage lang in den Klauen gehabt. Ich war zwar gefasster als auch schon. Heute Morgen hatte ich dann doch genug und ging ins Kantonsspital. Dort kennen sie mich ja mittlerweile. Viel tun können die zwar auch nicht. Aber sie können mir etwas Ruhe verschreiben.

Ich sass in der Hals-Nasen-Ohren-Notaufnahme. Nicht gerade wie ein Häufchen Elend. Aber eher ernst. Dass sich plötzlich ein Lächeln in die entferntesten Winkel meines Gesichts ausbreiten würde, hätte ich nie erwartet. Es geschah, als der diensthabende Arzt um die Ecke kam. Es war der etwas andere Arzt. Wie immer barfuss in Strohsandalen.

Ich habe ja schon vernichtende Urteile über die Ärzte in dieser Klinik gefällt. Die habe ich mittlerweile revidiert. Die Frauen und Männer da oben sind kompetent und verrichten einen knochenharten Job. Man kann nicht erwarten, dass sie die Probleme der Patienten in ihrer ganzen Tiefe durchschauen. Aber der etwas andere Arzt versucht wenigstens zuzuhören und zu erkennen, wer man ist und was man braucht.

Er schüttelte mir die Hand und grinste: "Ich sollte ja jetzt nicht sagen, dass ich mich freue, Sie wieder zu sehen."

Ich sagte: "Dasselbe wollte ich auch gerade sagen."

4
Nov
2011

150 Meter dickes Eis

Am Mittwochmorgen begegnete mir in einem Buch dieses Bild.



Es hängt seit Jahrzehnten im Gletschergarten von Luzern und ist eine Ikone der Zentralschweizerischen Naturhistorie. Jedes hiesige Kind hat es gesehen - und weiss seither, dass es in der Eiszeit nichts zu sehen gab. Ausser ein paar Mammuts. "Wusstest Du, dass Luzern und die Zentralschweiz vor etwa 15000 bis 20000 Jahren unter einer 150 Meter dicken Eisdecke lagen?" stand in der Bildlegende.

Das Bild passte verblüffend gut zu meinem Zustand. Mein gutes Ohr war über Nacht abgestürzt. Ich hörte alles durch wie durch eine dicke Schicht aus Eis und Schnee. Die Autos draussen schienen mit Schneeketten zu fahren. Es fühlte sich beinahe weihnachtlich an.

Da war ich noch guter Dinge. Ich fühlte mich stark. Ich war überzeugt: Ich würde mich schnell erholen.

Aber heute Nachmittag wurde schlagartig alles noch viel schlimmer. Jetzt höre ich die Autos draussen gar nicht mehr. Meine DVD heute Abend werde ich wohl mit Untertiteln gucken müssen.

Jetzt fühle ich mich nicht mehr stark. Nein, ich fühle mich dem Höllenfeuer der Verzweiflung näher als dem Eis.

30
Okt
2011

Feministische Selbstzerfleischung



Eins muss ich diesem Buch zugestehen: Es hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich habe es im Juni gelesen. Dieser Tage sah ich, dass auch frau chamäleon es liest. Sofort befiel mich der Frust von damals. Mein letzter Gedanke über das Werk war gewesen: "Egal, was eine Frau tut - Frau Mika wird sie es nicht recht machen können. Zum Glück müssen wir es Frau Mika nicht recht machen." Diese Reaktion kann nicht Ziel einer so genannten feministischen Streitschrift sein.

Hier noch eine Vorbemerkung: Ich habe nichts gegen Feministinnen. Ich bin selber eine - oder einmal eine gewesen. Leider ändert Mika nichts an der Zwiespältigkeit meiner Haltung. Im Gegenteil: Sie übt die weibliche Selbstzerfleischung. Und ich bezweifle, dass uns das weiter bringt.

Frau Mika bezichtigt die Frauen pauschal der Feigheit und der Komplizenschaft mit dem Patriarchat. Sie erzählt von gut ausgebildeten, müssig gehenden "Latte-Macchiato-Frauen", die ihre Männer Karriere machen und Kohle anschleppen lassen. Von heiratswütigen 25-Jährigen. Von einer jungen Forscherin, die ein Stipendium in Oxford ausschlägt, um bei ihrem Partner bleiben zu können. Sie scheint nur strohdumme Frauen zu kennen.

Ich kenne keine solchen Frauen. Ich kenne nur eine einzige Frau unter 65, die nicht einer Erwerbsarbeit nachgeht. Natürlich, fast ausnahmslos bringen ihre Männer mehr Geld nach Hause. Aber so ist das nun mal im Patriarchat. Ich habe noch diesen Kadermann im Ohr, der zu mir sagte: "Wieso sollen wir einer jungen Frau den gleichen Lohn zahlen wie einem jungen Mann? Oft sieht man ja schon beim Vorstellungsgespräch, dass eine bald schwanger wird." Und das war nicht 1956. Das war im April 2011.

Ich kenne ausschliesslich Frauen, die versuchen, mit ihren Talenten etwas anzufangen. Oder wenigstens in Würde Geld zu verdienen. Die einen als Putzfrauen, die anderen als Journalistinnen; die einen im Schulwesen, die anderen als Coiffeusen oder Kantinenfrauen. Einige wenige im Kader, die meisten als ganz gewöhnliche Arbeitsbienen. Frau Mika glaubt vielleicht, dass jede von uns zur Chefredaktorin oder zur Betriebsrätin geboren ist. Aber sie irrt sich.

Natürlich: Die meisten von uns sind irgendwann in die eine oder andere Falle des Patriarchats gestolpert: die Erwartung, dass man unbedingt einen Partner haben muss. Dass man für ihn Dinge aufgeben sollte. Und dann die ganze Sache mit den Kindern... Aber jede Frau, die ich kenne, versucht redlich, diese Fallen zu umgehen. Oder wieder aus ihnen hinaus zu kriechen. Wir alle wursteln uns durch – mal besser, mal weniger gut.

Leider sieht Frau Mika genau, was wir schlecht machen. Wie wir es besser machen könnten, darauf weiss nur wenige Antworten.

26
Okt
2011

Schwerhörig Musik hören

Eins muss ich vorausschicken: Wenn ich über meine Schwerhörigkeit klage, dann jammere ich auf hohem Niveau. Auf dem linken Ohr habe ich zwar mindestens 20 Dezibel Hörverlust auf allen Frequenzen. Aber auf dem rechten habe ich an guten Tagen immer noch das Glück eines tiptopen Gehörs. Nur an schlechten Tagen zerbröseln mir auch auf dem rechten Ohr die Bassriffs. Tiefton-Schwerhörigkeit. Typische Begleiterscheinung einer Menière-Erkrankung. Und nach einer Krise klingen manchmal alle Töne so verzerrt, dass ich tagelang die Jingles auf Radio DRS nicht wiedererkenne.

An solchen Tagen stellen ich mir jeweils die Frage: Kann ich die Erinnerung an Musik irgendwie konservieren? Werde ich es so weit bringen, dass ich im Kopf Musik hören kann, wenn ich einmal taub bin?

Einige von Euch werden mich jetzt auf Oliver Sacks verweisen. Er beschreibt in "Der einarmige Pianist" Menschen, die nach einer Ertaubung ganze Sinfonien hörten. Gerade so, als würden sie sich in ihrem Hirn von selber abspielen.

Aber mein Gehirn funktioniert nicht so. Jedenfalls bis jetzt nicht. Mein Gehirn erinnert sich nur an Songfetzen - die mir DJ Philemon dann auch wiederholt - oft genug als müdes Geleier. Niemals ist das so schön wie richtig Musik hören. Und wenn ich nur schon herauszufinden will, wie der ganze Song geht, bedarf es einer Willensanstrengung. Ich habe das Phänomen hier beschrieben.

Ja. Wenn ich Musik höre, bin ich dem lieben Gott nahe. Aber wenn ich Musik verstehen oder gar machen soll, schwanke ich zwischen Begriffsstutzigkeit und Pedanterie. Obwohl ich Noten lesen kann und einmal leidlich Gitarre gespielt habe. Nichts finde ich so langweilig wie Takte zählen oder Riffs memorieren.

Immerhin habe ich mittlerweile herausgefunden, dass nicht alle Popsongs im Viervierteltakt geschrieben sind. Der hier hat zum Beispiel einen Fünfvierteltakt im Hauptteil. Glaube ich jedenfalls. Hübsch.



Und neulich war ich auf dem Nachhauseweg vom Büro. Ich ging gerade am Garten von Frau Kurzhubermüller vorbei. Da hörte ich plötzlich einen Fetzen von Miles Away von The Young Gods. In meinem Kopf. Diesen weichen Gitarrensound, diese biegsame Stimme. In ihrer ganzen Intensität.

Vielleicht geht es doch.

22
Okt
2011

Was soll ich tun?

Eigentlich wären wir unterwegs in die Ostschweiz - zu meinem Bruder. Er hat uns schon vor längerer Zeit eingeladen. Aber ich musste absagen. Meine Ohren schwächeln. Viel Stress im Büro dieser Tage. Da liegt keine lange Zugfahrt drin, kein Übernachten auswärts. Da muss ich auf meine innere Stimme hören. Sie sagt: Bleib zu Hause und sammle Deine Kräfte.

Irgendwo habe ich gelesen, dass sich chronisch Kranke häufig total von ihrer Umwelt zurückziehen. Der Autor hatte wenig Verständnis für solches Gebaren. Gerade kranke Menschen sollten ihre Situation nicht noch erschweren, indem sie sich isolierten, schien der Subtext zu lauten. Wahrscheinlich hat er noch nie einen Hörsturz in einem Zug gehabt. Hat noch nie erlebt, wie der Lärm des Zugs immer gurgeliger wird. Oder eine Turmarkin-Attacke auf dem Trottoir mitten in der Nacht gleich neben dem Fussgängerstreifen. Hier habe ich beschrieben, wie sich das anfühlt.

Bei Mia habe ich einmal eine gute Erklärung für Laien darüber gelesen, warum die Einsamkeit oft die anhänglichste Begleiterin einer chronisch erkrankten Person ist.

Nun habe ich ein freies Wochenende vor mir. Herr T. ist auch hier. Er hat sich erstaunlich gelassen seinem Schicksal gefügt. Jetzt lautet die Frage: Was soll ich tun? Was sollen wir tun?

Dazu schweigt meine innere Stimme.

Oh, verdammt! Ich wünschte, ich könnte reisen!

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